Teil 1
Spiegelbilder der Gesellschaft

Vorbemerkung

Über Exposé und Treatment erreicht ein Drehbuch seine drehreife Fassung. Ein oder mehrere Autoren haben es geschrieben, Drama­turgen haben es geprüft, Produzent und Verleiher haben sich befragt, ob ein Geschäft darin liegt oder was zu ändern ist, um eines daraus zu machen. Dann erst treffen sich eine Menge Leute im Atelier, den Film zu drehen.

Unter Spöttern erzählt man, daß bei den meisten Filmen das Drehbuch erst nach dem fertigen Film geschrieben werde. Tatsache ist, daß bei vielen Filmen die letzte Drehbuch­kor­rektur mit dem Schneiden der letzten Filmmeter zusam­men­fällt. Trotzdem dürfte der von Kritikern oft aufge­stellte Grundsatz Gültigkeit haben, nachdem kein Film besser wird als sein Drehbuch.

Damit ist auf der einen Seite gesagt, daß das Drehbuch eines Films nicht wie von einem Orchester Note für Note von der Partitur gespielt wird, sondern daß die persön­liche Einfluß­nahme der am Filmschöp­fungs­prozeß Betei­ligten je nach der zugeteilten Aufgabe und ihrer Wahrnehmung eine gewisse Varia­ti­ons­breite einnimmt, die auf der anderen Seite durch die im Drehbuch festge­legte Konzeption der Stoff­ge­staltung jedoch ihre Grenzen erfährt.

Es ist Unsinn zu behaupten, ein Kriegsfilm könne während der Drehar­beiten, etwa weil es dem Regisseur oder dem Produ­zenten besser gefällt, auf einen Revuefilm umgestellt werden. Man wird auch die drama­tur­gische Grund­kon­struktion eines Films nicht mehr umstoßen. Änderungen dagegen wird die jeweilige Ausge­staltung, das Wie einer Szene erfahren. Hier ist der Aufga­ben­be­reich des Regis­seurs, in dessen Wahrnehmung er dem Film seinen Stempel aufdrücken kann.

In dem Maße, wie er alle am Entste­hungs­prozeß betei­ligten Faktoren seiner Idee vom Drehbuch unter­zu­ordnen vermag, wird der Film seinen Stil zu erkennen geben. Der franzö­sische Filmre­gisseur René Clair äußerte in einer Unter­haltung auf die Frage nach seiner Dekor­ge­staltung, daß er grund­sächlich alles im Atelier aufnehme, um auch das geringste Detail beein­flussen, verändern zu können. Dennoch bleibt für den Regisseur wie für alle Mitwir­kenden bei der Produktion eines Films das Drehbuch Grundlage und Richtschnur.

Die Änderungen, die eine Filmidee bis zu ihrer endgül­tigen Fixierung auf einer Vorführ­kopie erfährt, und die, wie gezeigt, nicht von einer Person, sondern von einer Vielzahl vorge­nommen werden, sind für den Zuschauer nicht zu erkennen. Und doch: Von Gründen der Drama­turgie über die Bedin­gungen der Technik, der Kalku­lation zu denen des Wetters, von den Vorstel­lungen, Anschau­ungen und Erfah­rungen der Teammit­glieder, vor allem des Regis­seurs, des Kamera­manns, des Cutters und der Haupt­dar­steller, bis zu den Verrich­tungen des letzten Beleuchters findet alles seinen sicht­baren Niederschlag.

Zahllose Aktionen, hervor­ge­rufen durch eine Fülle von mit dem Filmstoff sich beschäf­ti­genden Gedanken, finden ihre Konser­vierung auf einer Vorführ­kopie. Diese Aktionen, sich gründend auf Inter­ak­tionen, verschmilzen zu einem Produkt, das sich nur noch sehr begrenzt anteilig auf die Teammit­glieder wieder zerlegen läßt. Was die einzelnen Teammit­glieder in einen Film einbringen, können sie nicht mehr zurück­nehmen, nur das Gesamt­produkt kann einge­stampft werden. Das Produkt Film erlangt, die Ideen seiner Schöpfer in sich verei­nigend, Selbständigkeit.

Ein solcher­maßen entstan­denes Produkt kann nicht die Meinung eines einzelnen wider­spiegeln, auch nicht, wenn mehrere Aufgaben wie bei Filmen von Charles Chaplin von einer Person wahrge­nommen werden. Die Zusam­men­setzung des Teams muß in einem Film Ausdruck finden als das Zusam­men­schmilzen  von Inter­ak­tionen. Da die meisten Teammit­glieder ein und derselben Natio­na­lität sind und die Filme vornehmlich für den inlän­di­schen Markt gedreht werden, findet der Natio­nal­cha­rakter offen­kundig seinen Nieder­schlag. „Die Filme eines Volkes spiegeln seine Denkart unmit­tel­barer wider als andere Ausdrucks­mittel, …“1) schreibt Siegfried Krakauer.

Durch das Korre­spon­dieren zwischen Publikum und Filmfa­bri­kanten über das Thema „Jugend“ wurde deutlich, daß die heutige Jugend­kultur zu einem Thema der Gesell­schaft geworden ist. Es wurde offenbar, daß die Indus­trielle Gesell­schaft ihren Jugend­lichen keinerlei Insti­tu­tionen bietet, die den Übergang von der Kindheit zum Erwach­sensein status- und rollen­mäßig sichert.

Edgar Morin schreibt: „Nos sociétés modernes ont détruit les anciennes classes,d’âge archaiques: elles ont suprimé les anciens rites d’initiation, qui au prix de cruel­le­sé­preuves, et operant une sorte de mue sociale, fait ait  passer le jeune dans le monde des adultes. Mais en supprimant cette barriére essen­tielle entré l’enfant et l’adulte, elles ont créé une sorte de nouvelle classe, oú chacun doit s’initier tout seul, trouver tout seul les clés du monde adulte, se tremper tout seul.

Or, nous voyons ceci: depuis un demi-siècle, obscu­rément, progres­si­vement, l’adolescence cherche à se recon­naítre et à s’affirmer en tant que telle, c’est-à-dire en classe d’âge … James Dean reflete enfin l’inquietude adole­s­cente, la crise adole­s­cente.“2)

Talcott Parsons schreibt über die Jugend­kultur: „It is notable that the youth culture has a strong tendency to develop in direc­tions which are either on the borderline of parental approval or beyond
the pale, in such matters as sex behavior, drinking and various forms of frivolous and irrespon­sible behavior.“3)

Die neuen Verhal­tens­weisen der Jugend werden in den Banden eingeübt, womit die Jugend sich eine Ersatz­in­sti­tution geschaffen hat, die ihre Status­un­si­cherheit zumindest mindert. So wie der Film diese Banden darstellt, ist ihr Tun dem Gesetz nach hochgradig kriminell. Aber die Banden lösen sich nicht, entspre­chend dem Regelfall in der Wirklichkeit bei Erlangen des Erwach­se­nen­status ihrer Mitglieder auf, gekenn­zeichnet durch Heirat oder Berufs­aus­übung, sondern es wird demons­triert, daß das Verhalten, wie es in den Banden gelernt wird, die Jugend­lichen auf einen gefähr­lichen Irrweg leitet, der zur Katastrophe oder gerade noch im letzten Augen­blick zu einer Umkehr führt.

Hierin spiegelt sich die Einstellung der Erwach­senen den jugend­lichen Banden gegenüber wider. Man sieht sie als ein Unglück und nicht als das jugend­gemäße Verhalten in unserer Gesell­schaft. Würde man das Image der Halbstarken, so wie es die Filme vermitteln, mit dem Image vergleichen, das die Erwach­senen von der Jugend haben, so wäre eine weitge­hende Überein­stimmung wahrscheinlich.

Daher ist es auch nicht verwun­derlich, wenn manche Filme das jugend­liche Verhalten schon als Habitus eines Erwach­senen darstellen. Denn vielen Erwach­senen dürfte es unver­ständlich sein, daß jugend­liche Diebe in der Regel ihr delin­quentes Verhalten von heute auf morgen einstellen, wenn sie ihre Jugendzeit als beendet betrachten.

Daraus kann man nun nicht folgern, daß die Filme nicht vorhandene Probleme aufzeigen, sondern vielmehr, daß sie einseitig dem spekta­ku­lären Ende einer Subkultur ihr Augenmerk schenken.

„Die eigent­lichen extremen Akte sind dagegen nur noch als Schluß­punkte langer Entwick­lungen anzusehen, deren Kenntnis wichtiger ist als das ungebühr­liche Unter­streichen des Endes dieser Entwicklung, wenn sie auch gelegentlich Akte von ungeheu­er­licher Grausamkeit und fast unbegreif­lichem Vanda­lismus zeugt, wie es etwa in dem faszi­nie­renden Film des Spaniers Luis Bunuel ‚Los Olvidados‘ oder in minderem Maße in dem jüngeren Film ‚Black­board Jungle‘ darge­stellt worden ist.“4)

Wenn der Film sich vorwiegend mit den Schluß­punkten des in Banden gelernten abwei­chenden Verhaltens von Jugend­lichen beschäftigt, so kann man daraus schließen, daß hierin sich eine überwie­gende Verhal­tens­weise der Erwach­senen wider­spiegelt: Sie sehen nur die Auswir­kungen jugend­licher Fehlent­wicklung und schenken ihr allein Aufmerksamkeit.

In diese Richtung zielen denn auch die Werbe­schlag­zeilen der Filmverleiher:

„Verlorene Jugend zwischen Hoffnung und Verbrechen“, „Die Tragödie junger Menschen, deren Schicksal es war, ohne Liebe, Verständnis und Heimat leben zu müssen“, „Strandgut der Großstadt im Treibsand eines unent­rinn­baren Schicksals“, „Ein drama­ti­sches Filmwerk von der schuld­haften Verstri­ckung Jugend­licher, die im Dschungel der Zeit die tragi­schen Opfer von Verant­wor­tungs­lo­sigkeit und Selbst­sucht der Erwach­senen werden“.

Die vorlie­gende Arbeit hat zum Ziel, die Darstellung der heutigen Jugend, so wie sie in zahlreichen Filmen geschehen ist, in ihrer Typolo­gi­sierung aufzu­decken. Es wurde dabei versucht, in jene Schichten der Darstellung hinein­zu­leuchten, die hinter einer Wortformel wie der von den „Halbstar­ken­filmen“ liegen.

„Die Unter­su­chung dieser Erschei­nungen ist gerade darum wichtig, weil die Wertvor­stel­lungen, die in der Massen­kom­mu­ni­kation zum Ausdruck kommen, 1. nicht identisch sind mit den ratio­na­li­sierten Maximen der  ‚richtigen‘ öffent­lichen Moral und 2. auch nicht mit den relativ festge­prägten Normen der allgemein anerkannten (und  auch  befolgten)  sozialen Kultur, sondern gerade mit jenen ungemein flüssigen, aus der Sponta­neität des sozialen Lebens entsprin­genden Idealen, welche die Befürch­tungen, Wünsche und Erwar­tungen der Menschen zum Ausdruck bringen, auch ihre Bereit­schaften, aus denen sich vieles über das Geschehen von morgen ablesen läßt.“5)


1)
Siegfried Kracauer: Von Caligari bis Hitler, Hamburg, Seite 7

2) Edgar Morin in „Présence du Cinema“, Paris 60, Heft 4/5, Seite 11 ff.
3) Talcott Parsons: Essays in Socio­lo­gical Theory, Glencoe 49, pp.221/222
4) René König in „Kölner Zeitschrift für Soz. u. Sozps“, Sonderheft 2, Seite 10
5) René König in „Das Fischer-Lexikon“, Stichwort: Massen­kom­mu­ni­kation, Frankfurt 58


1. Einleitung: Titel der Filme

„Am Tag als der Regen kam“ erweckt Assozia­tionen an ein Ereignis, das mit dem Natur­phä­nomen Regen verbunden ist: Man kann an das Wohltuende, Löschende, Sätti­gende denken, das man nach langer Trockenheit beim ersten Regen empfindet und darin eine Analogie zum Geschehen des so betitelten Films vermuten; oder aber man kennt den Schlager gleichen Titels und schließt messer­scharf, daß dieser Schlager im Film vorkommen muß, sonst aber, wie die Erfahrung lehrt, mit dem Inhalt wenig zu haben wird.

Nach dem Willen der vorherr­schenden Schöpfer von Filmtiteln, den Verleih­firmen, soll ein Titel solche Assozia­tionen und Gefühle wecken, die den oder bestimmte Gruppen der Wahrneh­menden unwider­stehlich zu dem Entschluß drängen, sich durch Kauf eines Billets das Recht auf eine Vorführung zu verschaffen.

Der Titel bedarf eines Vehikels, um die Sinne des Anzuspre­chenden zu erreichen und die gewollte Suggestion auszu­lösen. Dabei gelangt das Vehikel, meist an das Auge appel­lierend, oft Selbstän­digkeit gegenüber dem Titel und sagt bisweilen mehr über den Inhalt des Films aus als der Titel.

Das den rechten Vorder­grund des Plakates füllende rot und gelb gekleidete junge Mädchen in Warte­po­sition, die Schatten zweier junger Männer, die sich ansehen und bei den Armen gefaßt haben, den Hinter­grund bildend, ein Motor­rad­fahrer in Kopfgröße der anderen Figuren mit aufge­blen­detem Schein­werfer seines Motor­rades läßt den sicheren Schluß zu, daß die Personen dieses Films ein leichtes Mädchen und irgendwie das Geschehen beein­flu­ßende junge Burschen sind, zu deren Betäti­gungen auch Motor­rad­fahren gehört.

Die Brücke zum Titel schlagen dünne, unter­bro­chene Striche, die das ganze Plakat überziehen. Der Titel selbst ist in klarer, ebenmä­ßiger Schrift aus weißen Groß- und Klein­buch­staben vierzeilig unter­ein­ander in die linke obere Bildhälfte gesetzt.

Die Titel der Halbstar­ken­filme beziehen sich zumeist nur auf einen der möglichen Aspekte des Sujets. „Dschungel von Manhattan“, „Stockholm 2Uhr nachts“, „Am Rande der Straße“, „Kinder der Straße“ weisen in der Art ihrer Ortsan­gaben auf Großstadt­sumpf, Großstadt­nächte, Verworfensein, Entwur­zelung hin. Tanzweise und Musik der Jugend führen zu Titeln wie „Rock’n Roll“, „Rock, Rock, Rock“, „Liebe, Jazz und Übermut“, „Jazzban­diten“. Als besonders beliebter Aspekt erweist sich das Gefähr­detsein der Jugend, insbe­sondere der Mädchen: „Teenager am Abgrund“, „Mädchen im gefähr­lichen Alter“, „Dürfen Mädchen mit 16 schon lieben“, „mit 17 am Abgrund“, „noch minder­jährig“, „Hölle der Jungfrauen“, „Ich laß mich nicht verführen“.

Ihrer­seits gefährdet die Jugend Ordnung und Recht der Gesell­schaft, sie ist „Jugend ohne Gesetz“, „Entfes­selte Jugend“, „Außer Rand und Band“; es sind „Hemmungslose“. Als mildernde Umstände mag für „Die Halbstarken“ gelten, daß sie „Die Verführten“, „Die Unver­stan­denen“ sind, „Die Saat der Gewalt“, „Wilde Früchte“. Die Jugend gleicht Tieren, sie sind „Die Wölfe“, „Die Ratten von Paris“; sie führen ein Leben „Wie verlorene Hunde“, diese „olvidados“. Man kann die Jugend auch in Relation zur Gegenwart sehen als „Moderne Jugend“, „Junge Leute von heute“, die das „Lebens­fieber“ erfaßt hat.

Wenn der eine oder andere Erwachsene noch der Meinung ist, „Wie herrlich jung zu sein“, so scheint die Mehrzahl der Filme über Jungen­d­liche, ihn eines Besseren bzw. Schlech­teren belehren zu wollen.

2. Filme über verwahrloste
Jugendliche vor 1953

Jugend­liche Fehlent­wicklung diente vor 1953 nur vereinzelt als Filmsujet. Wenn auch einige Arten des abwei­chenden Verhaltens schon anklingen – so wie sie nach 1953 in den zahlreich werdenden Filmen dieses Vorwurfs mehr und mehr zu Klischee­dar­stel­lungen werden –, so muß dennoch betont werden, daß die Darstellung des heute sich abzeich­nenden Genre­ch­a­rakters mit Personen- und Handlungs­typen in diesen ersten verein­zelten Filmen fehlte. Konflikt­si­tua­tionen wie die zwischen Bandenchef und einem Banden­mit­glied oder alter und neuer Erzie­her­ge­ne­ration, Ermordung eines Gleich­al­te­rigen oder eines Erwach­senen, der einen bei verbo­tenem Tun überrascht, haben noch nicht ihre Standar­di­sierung erfahren, sondern erscheinen als die Pionier­leis­tungen ihrer das Genre der Halbstar­ken­filme vorbe­rei­tenden Schöpfer.

Der Film „Die Verges­senen“ (Los olvidados) stellt einen jugend­lichen Bandenchef vor, der eine Kindergang befehligt. Hinterhöfe, Straßen  und ärmliche Behau­sungen von Mexiko City sind der Handlungsort. Der Film zeigt ein Beispiel für abwei­chendes Verhalten bei Heran­wach­senden, die in defekten Insti­tu­tionen groß werden, deren Aufgabe es sein soll, den jungen Menschen zum Aufbau seiner Persön­lichkeit anzuleiten. Ein solcher­maßen aufge­wach­sener Mensch ist nach der Aussage des Films für die Gesell­schaft untauglich, er wird vernichtet. Jaibo, der Bandenchef, wird am Ende erschossen, seine Leiche die Geröll­halde hinunter geworfen.

Einer der Jungen aus Jaibos Bande ist Pedro. Sein Zuhause, das einzige Zuhause, das der Film zeigt, besteht zur Haupt­sache aus Betten in der Nachbar­schaft von Hühnern und anderem Kleinvieh. In eines dieser Betten schleicht sich abends Pedro, wenn er nach Hause kommt. Hier träumt er eines Nachts, daß seine Mutter ihn lieb habe. Doch selbst im Traum taucht Jaibo auf und zerstört Pedros Glück. Jaibo, das ist der endgültige und totale Feind der Gesell­schaft. Er tyran­ni­siert die anderen Jungen, ihnen durch Alter und Körper­kraft überlegen, und führt sie zu Überfällen und Untaten.

Wer ihm die Gefolg­schaft verweigert, den schafft er aus der Welt: Julien, dem er vorwirft, ihn verraten zu haben; Pedro, der sich offen gegen ihn auflehnt. Beide wollten durch Arbeit, Julien als Bauar­beiter, Pedro als Lehrling in einer Schmiede, ihre Entwicklung in Wege leiten, die der Sanktio­nierung durch die Gesell­schaft entsprochen und ihnen die Aussicht auf ein Hinein­wachsen in die Erwach­se­nenwelt geboten hätte. Doch Jaibo wacht, er duldet keinen Abfall von den Verhal­tens­weisen, die in der Gang gepflegt werden, und dazu gehört es, daß man keiner Arbeit nachgeht.

Die Erwach­senen sind ein blinder Musikant, ein Krüppel, ein Schmied, ein Karus­sell­be­sitzer, der stets betrunkene Vater Juliens, die Mutter Pedros, der Direktor des Erzie­hungs­heimes, ein gut geklei­deter Mann, der Pedro ein zweifel­haftes Angebot vor einer Schau­fens­ter­scheibe macht, worauf Pedro davon­läuft. Pedro arbeitet in der Schmiede, arbeitet als Karus­sell­schieber, aber er bleibt unter Jaibos Macht. Als der Erzie­hungs­heim­di­rektor ihm Geld anver­traut, hätte Pedro dieses Vertrauen nicht enttäuscht, doch Jaibo überfällt ihn und raubt das Geld.

Pedro spürt, daß sein Schicksal sich jetzt entscheidet: Entweder er ergibt sich Jaibo, dann wird er nie sein Ziel, ein recht­schaf­fener Mensch zu werden, erreichen, oder er setzt sich zur Wehr, um gegen Jaibos Wider­stand sein Ziel anzustreben. Er entschließt sich für den letzteren Weg. Jaibo ermordet ihn. Pedro, der kleine Held des Films, wollte ein „guter Junge“ sein – er wäscht sich sogar –, aber niemand wollte oder konnte ihm helfen.

Einen Blinden und einen Krüppel, Menschen, die man allgemein bemit­leidet und die man schützt, überfällt Jaibo mit seiner Bande. Da diese beiden Erwach­senen in den Vorder­grund gestellt sind, muß man annehmen, daß Bunuel, der Autor und Regisseur des Films, mit ihnen die Erwach­senen allgemein charak­te­ri­sieren will, defekte Erwachsene, die zugleich Opfer und Ursache der verwahr­losten, delin­quenten Jugend sind.

Die Jungen werfen mit Steinen auf den Blinden, schlagen ihn, werfen den in ohnmäch­tiger Wut mit einem Stock um sich schla­genden zu Boden, zertrümmern seine Musik­in­stru­mente. Von dem auf seinem Wägelchen mit einer Zigarette im Mund sich dahin schie­benden Krüppel verlangen die Jungen Zigaretten. Da er sie verweigert, werfen sie ihn von seinem Vehikel, und Jaibo versetzt dem Ding einen Tritt, so daß es die Straße hinunter schießt.

Die anderen Erwach­senen geraten demge­genüber in den Hinter­grund und dienen der Akzen­tu­ierung des einen oder anderen Tatbe­standes. Von den Eigen­schaften einer Mutter, die um die Entwicklung ihres Kindes besorgt ist, zeigt Pedros Mutter nichts. Sie müsse arbeiten und habe keine Zeit für den Jungen, der in ihren Augen ein unver­bes­ser­licher Tauge­nichts ist. So sagt sie es vor dem Jugend­ge­richt. Juliens Vater torkelt betrunken durch die Straßen und verflucht den Mörder seines Sohnes, der „uns alle ernährte“.

Jaibo fragt das Mädchen Meche: „Gibst du mir für zwei Pesos einen Kuß?“. Sie überlegt: Zwei Pesos, dann willigt sie ein. Aus ihrem Schreien zu schließen, bleibt es nicht beim Kuß. Pedros Mutter hat als Mädchen Ähnliches dulden müssen. Sie äußert zu Jaibo, sie sei beim erstem Mal 14 Jahre alt gewesen und habe sich nicht wehren können.

Völlig entartet mutet das Sozial­ge­bilde an, in dem Kinder die ungewollte Folge sexueller Betätigung sind und als „olvidados“ aufwachsen. Daß die Schöpfer des Films Begeben­heiten aufzeigen möchten, die von allge­meiner Gültigkeit sind, heben sie im Vorspann hervor: New York, Paris, London – „in den großen Städten wachsen junge Menschen auf ohne Liebe, ohne Heim; die Gescheh­nisse des Films beruhen auf wahren Begebenheiten.“

Die Filme „Wenn man die Schule schwänzt“ und „Der Weg ins Leben“ stellen indes die Erfolge einer jungen Erzie­her­ge­ne­ration im Gegensatz zu einer alten dar. In „Wenn man die Schule schwänzt“ stopft ein alter verknö­cherter Lehrer seine Schüler mit totem Wissen voll, und mit seiner Forderung nach Disziplin bringt er die Jugend  zu Mißtrauen und Bösar­tigkeit. Der ihn ablösende junge Lehrer dagegen faßt die Jugend bei ihrer Freude an Sport und Spiel, bei ihrem Ehrgeiz, mit dem Erfolg, daß selbst der größte Übeltäter unter den Schülern sich zu einem hoffnungs­vollen Sproß der Gesell­schaft entwickelt.

1931 wurde in Rußland „Der Weg ins Leben“ produ­ziert. Der Film zeigt zu Beginn das Treiben jugend­licher Diebes­banden in Moskau. Die Idylle einer glück­lichen Familie wird zerstört, als die Mutter bei einem der Überfälle getötet wird. Der Vater kommt von da an stets betrunken nach Hause. Als er seinen Sohn eines Abends im Rausch verprügelt, läuft dieser davon. Kolla schließt sich einer der Banden an und wird zusammen mit Mustafa, dem Banden­führer, sowie den anderen Banden­führern bei einer Razzia verhaftet.

Statt die Jugend­lichen wie bisher ins Gefängnis werfen zu lassen, bringt der neue Jugend­se­kretär sie ohne Bewachung in ein Arbeits­lager. Das Vertrauen, das er in die Jugend­lichen setzt, wird selbst durch Mustafa nicht enttäuscht, dem die Verwaltung des Reise­geldes anver­traut wurde. Wenn es auch im Arbeits­lager zu Rückfällen kommt, die Löffel gestohlen, Mobiliar und Werkzeuge demoliert werden, am Ende siegt die gute Veran­lagung der Jugend­lichen, an die zu appel­lieren der neue Jugend­se­kretär nicht müde wurde.

Der Versuch eines Banden­chefs aus Moskau, die Jungen wieder zu ihrem alten Banden­leben zurück­zu­holen, wird von Mustafa, Kolla und ihren Freunden vereitelt. Der Schluß des Films ist effekt­ge­laden, pathe­tisch, symbol­trächtig, propa­gan­dis­tisch: Eine Anschluß­strecke an das große Bahnnetz ist fertig­ge­stellt worden. Mustafa soll den ersten Zug abholen. Unterwegs wird er aber von einem noch nicht umerzo­genen Moskauer Banden­führer ermordet. Der erste Zug fährt unter Jubel ins Lager ein, aber er verstummt, als der tote Mustafa, vor dem Kessel der Lokomotive aufge­bahrt, erkennbar wird. Eine Art Märty­rertod soll die Endgül­tigkeit des Wandels jugend­lichen Verhaltens eindringlich machen. Ein Wandel, der zur Aneignung der geplanten Erwach­se­nen­rolle führt, sinnfällig gemacht durch einen Bahnanschluß.

„Wenn man die Schule schwänzt“ und „Der Weg ins Leben“ behaupten, daß die Jugend in den tieferen Schichten ihrer Person unver­sehrt ist und es allein der ihr gemäßen Behandlung bedarf, sie zu angepaßten Mitgliedern der Gesell­schaft zu machen. Das leisten Erwachsene, insbe­sondere Lehrer und Erzieher, die sie von der Kindheit durch die Jahre der Adoleszenz ins Erwach­se­nen­dasein hinüber­führen, ohne daß sie zu einer Gefahr für die Gesell­schaft werden.

Der Episo­denfilm „Kinder unserer Zeit“ wider­spricht in seiner Behandlung des Themas dieser Aussage. Es geht dreimal um Mord. 1. Episode: In Paris ermordet eine Bande Halbwüch­siger beiderlei Geschlechts nach einem raffi­nierten Kollek­tivplan einen Gleich­al­te­rigen. 2. Episode: In Italien erschießt der verwöhnte Sohn reicher Eltern, der sich als Schmuggler betätigt, einen Polizisten im Feuer­ge­fecht und erliegt selbst einer inneren Verletzung. 3. Episode: In London meldet ein junger Dichter aus purem Geltungs­be­dürfnis bei einem Sensa­ti­ons­blatt einen Leichenfund, um auf der Titel­seite heraus­ge­stellt zu werden. Nachher gesteht er dem Redakteur, das er die aufge­fundene Person, eine ältliche Dirne, zu diesem Zweck selber erwürgt hat. 

Der Film beginnt mit einem Blick auf die Schlag­zeilen der Weltpresse, was wohl soviel sagen soll wie: Diese Episoden stellen keine Einzel­fälle dar. Was behauptet wird, ist die Mißachtung des funda­men­talen Gebotes mensch­lichen Zusam­men­lebens in den westlichen Gesell­schaften durch eine Jugend, die die Anerkennung und Achtung des Mitmen­schen als Person nicht akzeptiert. 

Daß der Jugend­liche der 2. Episode an den Folgen seiner Tat stirbt und das gerade an einer inneren Verletzung, ist sehr sinnfällig. Den Vorwurf gegen die Presse, sie verur­sache dadurch, daß sie den Normver­stößen zu große Aufmerk­samkeit schenke, zu neuen Straf­taten animiere, bringt die 3. Episode zur Geltung. Für die Jugend­lichen entsteht, so wird argumen­tiert, ein Anreiz, sich die Beachtung der Erwach­senen, die sie so sehr entbehren, durch krimi­nelle Handlungen zu erlangen. 

Durch die Ermordung einer sozial Verach­teten wird dargetan, daß der Mord nur Mittel ist und dem Täter ohne Schlag­zeile keinerlei Befrie­digung gebracht hätte. Es mußte gerade ein Dichter sein, damit der Zuschauer die Frustrierung durch die Nicht­be­achtung der Gesell­schaft nachvoll­ziehen kann.

Im folgenden Kapitel soll nun die nach 1953 erkennbar werdende Standar­di­sierung des sich im Film etablie­renden Halbstar­ken­themas behandelt werden. Zur Katego­ri­sierung der ersten beiden Abschnitte dieses Kapitels wurden die Filme gemäß ihrer Aussa­ge­intention zusam­men­gefaßt, so daß in ihrer Intention einmalige Filme eine eigene Kategorie erhielten. Im dritten Abschnitt wurde ein Katego­ri­en­system gewählt, das die Gestal­tungsart der Aussagen erfaßt. Es wurde angewandt auf jene Filme, die die jugend­liche Subkultur in den Gangs in den Darstel­lungs­vor­der­grund rücken.

Soweit in den Filmen der beiden ersten Abschnitte im Hinter­grund Gang und Subkultur auftauchen, ist dies im dritten Abschnitt berück­sichtigt. Der vierte Abschnitt bringt eine zusam­men­fas­sende Darstellung der Personen- und Handlungs­typen, so wie sie sich aus den drei ersten Abschnitten ergeben. Im fünften Abschnitt soll schließlich der Versuch gemacht werden, den Quellen und Ursachen der Typen­bildung nahe zu kommen.

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