SINNphOLL-Interviews

Thema:
Handelsunternehmer als Pioniere der Globalisierung

Gesprächspartner:
Utho Creusen, Senior Advisor für mehrere internationale Handelsunternehmen. Honorarprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. 

Paul Halbe: Ein Kernelement der Sozialen Markt­wirt­schaft ist der Wettbewerb. Die Vorteile des inter­na­tio­nalen Wettbe­werbs nutzen seit jeher die Handels­un­ter­nehmen. Sind Handels­un­ter­nehmen die Pioniere der Globalisierung?

Utho Creusen: Man kann Handels­un­ter­nehmen durchaus als Pioniere der Globa­li­sierung bezeichnen. Handel setzt immer Kommu­ni­kation voraus. Handels­un­ter­nehmen sind kultur­schaffend, da sie den Kontakt und die Kommu­ni­kation zwischen Menschen, Bevöl­ke­rungs­gruppen und Gesell­schaften herstellen. Der Handel agiert als Motor, Waren außerhalb des eigenen Umfelds zu vertreiben – histo­risch geschah das zunächst nur innerhalb eines Dorfes, dann innerhalb eines Landes und schließlich global. Viele Handels­un­ter­nehmen vernetzen uns heute weltweit und fördern somit die Globalisierung.

Paul Halbe: Welche Fähig­keiten muss ein Handels­un­ter­nehmer im Unter­schied zu einem Produ­zenten haben?

Utho Creusen: Ein Händler muss stark kunden­ori­en­tiert arbeiten. Erfor­derlich sind zudem ein Höchstmaß an Flexi­bi­lität und Schnel­ligkeit. Handels­un­ter­nehmer arbeiten eher nach dem Prinzip ‚try and error‘ oder ‚try and fix it‘, es wird erst einmal auspro­biert. Stellt sich der Erfolg ein, wird weiter­ge­macht. Kauft der Kunde nicht, wird schnell reagiert. Daher müssen Handels­un­ter­nehmer und deren Mitar­beiter andere Talente als Produ­zenten haben. Diese denken viel langfris­tiger. Daher ergibt der Online-Talente-Test ‚Clifton Strengths Finder‘ häufig, dass Handels­un­ter­nehmer “Arranger” sind, das heißt, sie sind in einem beson­deren Maße anpas­sungs- und multitaskingfähig.

Paul Halbe: Man sagt, Handel könne frieden­stiftend wirken. Welche Voraus­set­zungen müssen dazu erfüllt sein?

Utho Creusen: Wenn Menschen mitein­ander kommu­ni­zieren – und das müssen sie, wenn sie einen Handel eingehen wollen – ist das zumindest der erste Schritt zu einem fried­vollen Mitein­ander. Voraus­setzung dafür ist, dass gewisse inter­kul­tu­relle Grund­werte respek­tiert und einge­halten werden. Dazu gehören zum Beispiel die Kunden­ori­en­tierung und ein fairer Austausch zwischen den Handels­partnern. Kein Handels­partner sollte übervor­teilt werden. Ungleiche Tausch­ver­hält­nisse führen immer zu Qualitätsmängeln.

Paul Halbe: Welche Formen von Protek­tio­nismus hemmen heute den Handel?

Utho Creusen: Da gibt es viele Formen. Beliebt sind die Restrik­tionen bei Stand­ort­ge­neh­mi­gungen. Die Dauer und Komple­xität von Geneh­mi­gungs­ver­fahren einzelner Länder erreicht schon Züge von Protektionismus.

Paul Halbe: Was sind typische Ideen, aus denen große Handels­un­ter­nehmen hervor­ge­gangen sind?

Utho Creusen: Eine revolu­tionäre Idee des vorletzten Jahrhun­derts war, die Preise für Waren nicht mehr zu verhandeln, sondern einen Fixpreis per Etikett auszu­zeichnen. Die Abläufe wurden dadurch extrem verein­facht, es gab eine größere Klarheit. Daraus sind die Waren­häuser entstanden.

Eine weitere Idee war die der Selbst­be­dienung. Anfangs nur von Einzel­händlern genutzt, gibt es sie heute in nahezu allen Bereichen, von der Tankstelle bis zum Bankau­to­maten. Heute ermög­lichen Self-Check-Out-Systeme Kosten­er­spar­nisse, verkürzen Warte­zeiten und erhöhen die Bequem­lichkeit und Verfüg­barkeit. Eine andere Frage ist, ob jeder Kunde dies positiv bewertet.

Aus der Idee, die Sorti­mente zu reduzieren und durch hohes Volumen pro Artikel niedrige Preise anbieten zu können, sind die Discounter entstanden. Eine weitere Idee ist das E‑Commerce, also der Verkauf von Waren über das Internet. Daraus sind unter anderem Amazon und Ebay entstanden. Der Versand­handel war bereits eine Vorform dieses Distanzhandels.

Paul Halbe: Was ist bei Quelle/Karstadt schief gelaufen, so dass es zur Insolvenz gekommen ist?

Utho Creusen: Als ehema­liges Aufsichts­rats­mit­glied möchte ich mich zu dieser Frage nicht näher äußern. Ganz allgemein lässt sich aber sagen, dass ein Handels­un­ter­nehmen sich in angemes­sener Zeit Kunden­be­dürf­nissen anpassen muss. Gelingt dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht, muss mit entspre­chenden Konse­quenzen gerechnet werden.

Paul Halbe: Warum ist es OBI nicht gelungen, in China Fuß zu fassen?

Utho Creusen: China ist ein sehr schwie­riger Markt, kein Händler sollte die Kreati­vität und Handel­s­ta­lente der Menschen dort unter­schätzen. Chinesen lernen und adaptieren schnell Neues. Jeder, der dort aktiv werden will, muss mit einem starken Wettbewerb rechnen.

Darüber hinaus ist China nicht gleich China. Das Land ist riesig und weist enorme regionale Unter­schiede auf. Viele westliche Unter­nehmen unter­schätzen diese Diver­sität und können sich nicht in ausrei­chendem Maße an regionale Kunden- und Konsum­be­dürf­nisse anpassen. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine geeignete Partner­schaft mit einem lokalen Partner, der den regio­nalen Markt und die Kunden­be­dürf­nisse gut kennt. Aber auch Partner­schaft will gelernt sein.

Paul Halbe: Wer das Risiko­ka­pital eines Unter­nehmens stellt, will auch das Sagen haben. Insbe­sondere wenn es darum geht, schnell Entschei­dungen zu treffen und diese in die Tat umzusetzen. Welcher Führungsstil wird einer solchen Einstellung am ehesten gerecht?

Utho Creusen: Ein Unter­nehmer, der meint, nur weil er das Kapital stellt, müsse er auch immer Recht bekommen, befindet sich auf dem Holzweg. Langfris­tiger Erfolg gelingt nur durch die Einbindung von Know How und Kreati­vität der Partner und Mitar­beiter. Unter­su­chungen zeigen, dass dies nicht zu Lasten der Schnel­ligkeit gehen muss und die Qualität der Entschei­dungen erhöht. Und darum geht es einem Investor doch.

Paul Halbe: Ist der Kunde für den Handel wirklich „König” oder nicht eher eine „dumme Gans”, die sich mit Tricks hinters Licht führen und mit Raffi­nesse manipu­lieren lässt? Brauchen wir einen verstärkten Verbraucherschutz?

Utho Creusen: Ich glaube an die Intel­ligenz der Kunden und Konsu­menten. Kurzfristig lässt sich vielleicht ein wenig tricksen, langfristig jedoch wird ein solches Verhalten für ein Unter­nehmen nicht gut gehen können. Unter­nehmen, die es versäumen, Vertrauen und somit Kunden­bindung aufzu­bauen, sind schnell wieder vom Markt verschwunden. Im Handel werden Fehler sehr schnell bestraft.

Paul Halbe: Handels­un­ter­nehmen sind in hohem Maße werbe-aktiv. Bei manchen Firmen hat man den Eindruck, dass es ihnen einzig und allein darum geht, mit ihren Kampagnen aufzu­fallen. Man spricht von aggres­siver Werbung. Wie beurteilen Sie ein solch schrilles Markt­ver­halten? Sind das die Markt­schreier von heute?

Utho Creusen: Wer laut ist, hat die Kunden, die er mit diesem Verhalten erreicht. Es gibt Händler, die glauben, dass sich in Zeiten eines Infor­ma­tions-Überflusses viele Konsu­menten nur noch durch laute und preis-aggressive Werbung zum Kauf bewegen lassen. Aber auch hier gilt, dass laut sein allein wenig erfolg­ver­spre­chend ist. Langfristig gilt es, Vertrauen und Kunden­bindung aufzubauen.

Paul Halbe: Der Handel muss sich wie kein anderer Wirtschafts­zweig auf den Wandel der Zeit einstellen. Da schützt auch die Größe nicht vor Pleite. Welchen Handels­formen gehört die Zukunft?

Utho Creusen: Der Multich­annel-Handel wird eine wichtige Rolle spielen. Unter­nehmen müssen Angebote sowohl im Internet als auch im statio­nären Handel bereit­stellen, um konkur­renz­fähig zu bleiben. Um dauerhaft überleben zu können, ist zudem Service­ori­en­tierung notwendig. Die demogra­fische Alterung der Bevöl­kerung verstärkt diesen Trend. Zudem suchen die Konsu­menten vermehrt gesunde und nachhaltige Produkte. Diese Anfor­de­rungen gelten für kleine Unter­nehmen ebenso wie für große, sie müssen anpas­sungs­fähig bleiben.

Creusen: 2010

 

Thema:
Beim Geld hört die Gemütlichkeit auf oder?

Gesprächspartner:
Marie-Luise Dött, Mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzende des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU)

Paul Halbe: Bringt Geld in Versuchung?

Marie-Luise Dött: Eindeutig ja. Ein kluger Kopf hat mal gesagt: Jeder ist käuflich, es kommt nur auf den Preis an. Ich bin aber optimis­tisch, dass bei mir die Schwelle so hoch liegt, dass mich niemand kaufen wird.

Paul Halbe: Kann Geld wie eine Droge süchtig machen?

Marie-Luise Dött: Eindeutig Ja. Warum sonst würde schon in den Zehn Geboten davor gewarnt, das Hab und Gut des Nächsten zu begehren. Und der Wert der meisten Besitz­tümer wird nun einmal in Geld gemessen.

Paul Halbe: Bei nicht wenigen Menschen kann man beobachten, dass sie um jeden Cent feilschen, aber mit großen Beträgen umgehen, als seien sie im Spiel­casino. Sind die großen Beträge zu abstrakt?

Marie-Luise Dött: Für viele ist das Sparen bei den kleinen Summen sicher eine Art Sport. Außerdem beschreiben Trend­for­scher seit einiger Zeit die ‚Smart Consumer‘. Das sind Menschen, die einen Teil ihrer Einkäufe beim Discounter erledigen, den anderen Teil in Luxus­läden. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass viele Menschen im Alltag sparen, um sich dann im Urlaub oder zu anderen seltenen Anlässen auch mal etwas gönnen zu können. Die Vermutung, dass dabei die großen Beträge abstrakt werden, teile ich.

Paul Halbe: Welchen Charakter muss ein Mensch haben, um gegen Bestechung immun zu sein?

Marie-Luise Dött: Er muss zunächst einmal ein starkes Werte­fun­dament haben, um überhaupt ein Gefühl dafür zu bekommen, dass Bestechung etwas Negatives ist. Außerdem schleichen sich Bestechung und Korruption in der Regel in kleinen Schritten in unser Leben. Das fängt an mit der Einladung zum Essen, dann gibt es ein kleines Geschenk dazu, als nächstes vielleicht eine kostenlose Reise. Irgendwann bin ich dann an einem Punkt angekommen, an dem ich nicht mehr Nein sagen kann, wenn es um mögliche Gegen­leis­tungen geht. Wer hier immun sein will, muss schon von Anfang an Nein sagen.

Paul Halbe: Was ist ein gerechter Lohn?

Marie-Luise Dött: Gerecht ist aus meiner Sicht ein Lohn, der die Produk­ti­vität, den betriebs­wirt­schaft­lichen Nutzen, des jewei­ligen Mitar­beiters wider­spiegelt. Gerade bei einfachen Tätig­keiten kann es passieren, dass diese Summe – auch bei einer Vollzeit­be­schäf­tigung – nicht ausreicht, um davon zu leben oder gar eine Familie zu ernähren. Der entspre­chende Ausgleich muss dann aber über staat­liche Transfers geschehen und nicht über das Unter­nehmen. Betriebe müssen am Markt bestehen und nicht die staat­liche Sozial­po­litik ersetzen.

Paul Halbe: Stimmt der Ausspruch aus der Römerzeit: Geld stinkt nicht?

Marie-Luise Dött: Wer ein christ­liches Gewissen hat, wird sehr wohl feststellen, dass zu Unrecht erhal­tenes Geld zum Himmel stinkt.

Paul Halbe: Welchen morali­schen Grund­sätzen müssen Politiker im Umgang mit Geld gerecht werden?

Marie-Luise Dött: Wenn wir Politiker über die staat­lichen Haushalte abstimmen, müssen wir immer daran denken, dass wir das Geld der Bürger verwalten und entspre­chend verant­wortlich damit umgehen. Das gilt insbe­sondere mit Blick auf die künftigen Genera­tionen: Wir dürfen heute nur das Geld ausgeben, das wir haben und unsere Kinder nicht mit einem Berg voll Schulden belasten.

Paul Halbe: Wie können moralische Vorstel­lungen bei den Akteuren der Finanz­märkte zur Geltung gebracht werden?

Marie-Luise Dött: Moralische Vorstel­lungen können Sie nicht per Gesetz erzwingen. Hier hilft nur der moralische Appell, wie ihn Papst Benedikt XVI. formu­liert hat: Danach ist eine menschen­freund­liche Wirtschaft darauf angewiesen, dass die Akteure verant­wortlich handeln. Als Gesetz­geber können Politiker höchstens versuchen, Siche­rungen einzu­bauen, um falsches Verhalten zu bestrafen. Der BKU fordert schon seit Jahren eine Manager­haftung bei groben Fehlern. Vielleicht wäre es an der Zeit, dies auf gewisse Arten von riskanten Finanz­ge­schäften auszuweiten.

Paul Halbe: Zerstören Subven­tionen den eigen­ver­ant­wort­lichen Umgang mit Geld?

Marie-Luise Dött: Ja. Außerdem verzerren sie den Wettbewerb, weil sie träge machen und die Empfänger nicht mehr unter dem Druck des Marktes stehen, der sie zwingt, ihre Waren ständig zu verbessern und preis­werter zu machen.

Paul Halbe: Wird zweierlei Maß angelegt, wenn Steuer­flucht verfolgt und bestraft wird, die Verschwendung von Steuer­geldern jedoch folgenlos und straffrei bleibt?

Marie-Luise Dött: Im Prinzip ja. Das Problem ist aber, dass sich Steuer­flucht anhand der gültigen Gesetze viel leichter definieren lässt als die Verschwendung von Steuer­geldern. Denn hinter jeder öffent­lichen Ausgabe steckt ja eine politische Entscheidung darüber, ein bestimmtes Projekt aus Steuer­mitteln zu finan­zieren. Und wenn sich eine Mehrheit findet: Wer soll dann darüber urteilen, ob es sich um Verschwendung oder sinnvolle Dinge handelt? Und wenn es wegen schlechter Planung zu Kosten­über­schrei­tungen kommt, ist dabei allen­falls Fahrläs­sigkeit oder Unfähigkeit im Spiel – bei der Steuer­flucht dagegen Vorsatz.

Paul Halbe: Was ist notwendig, damit Kinder und Jugend­liche den verant­wor­tungs­vollen Umgang mit Geld lernen?

Marie-Luise Dött: Kinder müssen vor allem lernen, dass alles im Leben seinen Preis hat und dass die Ressourcen begrenzt sind. Und sie müssen lernen, dass man Geld erst verdienen muss, bevor man es ausgeben kann. Dazu gehört auch die Erfahrung, dass nicht jeder Wunsch sofort erfüllt werden kann. Hier müssen manche wohlmei­nende Eltern, Großeltern und andere Verwandte aufpassen, dass sie die Kinder nicht so sehr verwöhnen, dass sie diese Grenzen nicht mehr kennen.

Paul Halbe: Wie kann sich eine Gesell­schaft dagegen schützen, dass durch die Verfeh­lungen weniger der Wohlstand aller in Gefahr gerät?

Marie-Luise Dött: Die Gründer­väter unserer Sozialen Markt­wirt­schaft kannten das Grund­prinzip, dass man mit eigenem Geld vorsich­tiger umgeht als mit dem Anderer. Darum ist es unerlässlich, dass wir an möglichst vielen Stellen Entscheidung und Haftung mitein­ander verbinden. In der Wirtschaft ist das ideal­ty­pisch in der Person des haftenden Eigen­tümer-Unter­nehmers verwirk­licht, der bei einer Insolvenz mit Haus und Hof haftet.

Die Einführung einer Manager­haftung wäre ein kleiner Schritt, dies auch andernorts zu verwirk­lichen. Gleich­zeitig müssen wir uns aber davor hüten, nur „die da oben“ für alles haftbar zu machen. Denn in der Finanz­krise haben viele Anleger auch alle Vorsichts­maß­nahmen außer Acht gelassen und hochver­zinste Papiere gekauft – obwohl schon der gesunde Menschen­ver­stand mir sagt, dass hohe Zinsen immer auch ein hohes Risiko bedeuten.

Dött: 2010

 

Thema:
Lebensqualität durch Gesundheitssport

Gesprächspartner:
Volkmar Feldt, promovierter Sportwissenschaftler, über eine Lebensführung, die mit Hilfe von Gesundheitssport fit hält. Feldt ist Mitbegründer des Sport-Gesundheitsparks in Berlin. Seine Arbeit gilt sowohl der Rehabilitation, beispielsweise nach Herzinfarkten, als auch der Vorbeugung sogenannter Zivilisationskrankheiten. 

Paul Halbe: Wie viel Aufmerk­samkeit sollte man seiner Gesundheit schenken?

Volkmar Feldt: Das hängt von dem Begriff Aufmerk­samkeit ab. Gesunde Lebens­führung muss habitua­li­siert sein, beispiels­weise sollte Süßes, Ungesundes erst gar nicht gekauft werden. Bewegung, auch Gymnastik muss selbst­ver­ständ­licher Bestandteil des Alltags sein – also ohne besondere Aufmerk­samkeit gemacht werden.

Paul Halbe: Welche Bedeutung hat die geistige und seelische Verfassung eines Menschen für seine Gesundheit?

Volkmar Feldt: Sehr wahrscheinlich eine Überra­gende! Durch Hormone und Vegeta­tivum sind Körper, Geist und Seele in vielfäl­tiger Weise inein­ander verwoben. Eine Trennung ist gar nicht möglich.

Paul Halbe: Noch nie hatte die Menschheit aufgrund wissen­schaft­licher Erkennt­nisse eine größere Chance, gesund zu leben, als heutzutage. Haben frühere Genera­tionen Pech gehabt oder wusste man schon immer, was dem Menschen gut tut?

Volkmar Feldt: Das Wissen um Gesundheit nimmt in unserer Zeit exponen­tiell zu. Insofern hatten frühere Genera­tionen in der Tat Pech. Die Frage ist jedoch, ob unsere Zeitge­nossen das Wissen auch richtig umsetzen. Denkt man an die vielen Bewegungs­man­gel­er­kran­kungen so sind Zweifel angebracht.

Paul Halbe: Ist Gesund­heits­sport, der einmal in der Woche gesellig getrieben wird, ausrei­chend für das Wohlbe­finden oder sollte beispiels­weise Gymnastik indivi­du­eller Teil des Tages­ab­laufs sein?

Volkmar Feldt: Soziale Kontakte bei der Bewegung sind sehr dienlich für die Motivation. Aber sie sind nicht ausrei­chend. Damit wird der notwendige Energie­ver­brauch pro Woche nicht sicher gestellt. Der ist zwar indivi­duell verschieden, aber einmal Fußball­tennis in der Woche ist in jedem Fall zu wenig. Entwick­lungs­ge­schichtlich ist der Mensch an muskuläre Arbeit gebunden, um gesund zu bleiben.

Paul Halbe: Sind Nahrungs­er­gän­zungs­mittel notwendig?

Volkmar Feldt: Nein. Wenn die Grund­lagen gesunder Ernährung berück­sichtigt werden, reicht das völlig aus.

Paul Halbe: Kraft­training und Dehnungs­übungen assoziiert man vor allem mit Leistungs­sportlern und körper­be­wussten jungen Leuten. Jetzt ist zu hören, dass auch ältere Menschen „an die Geräte” sollten. Ist das eine Verkaufsmasche?

Volkmar Feldt: Nein. Ein kontrol­liertes, geräte­ge­stütztes Training ist bis ins hohe Alter förderlich für die Gesundheit. Einmal in der Woche „an die Geräte” ergänzt hervor­ragend die häusliche Gymnastik, die man zweimal in der Woche betreiben sollte.

Paul Halbe: Geht es auch ohne Geräte mit entspre­chender Gymnastik?

Volkmar Feldt: Nur Gymnastik ohne Geräte ist besser als gar nichts. Aber optimal ist das nicht.

Paul Halbe: Was ist allen Menschen an Körper­lichkeit gemeinsam, so dass der Gesund­heits­sport nicht immer indivi­duell diffe­ren­ziert werden muss?

Volkmar Feldt: Die biolo­gi­schen Deter­mi­nanten der Menschen sind gleich – abgesehen von geneti­schen Beson­der­heiten. Daraus folgt, dass auch die Prinzipien der Bewegungen gleich sind – beispiels­weise der Verbrauch an Kiloka­lorien. Auch die motori­schen Grund­ei­gen­schaften wie Kraft, Ausdauer und Beweg­lichkeit sind bei allen Menschen mehr oder weniger gleich.

Paul Halbe: Im Laufe des Lebens verändern sich die Bedin­gungen für die Gesundheit. Welche Verän­de­rungen sind allgemein kennzeichnend?

Volkmar Feldt: Die alters­spe­zi­fi­schen biolo­gi­schen Abbau­pro­zesse wie der Verlust von Kraft, Ausdauer und Sensorik sind eng mit dem im Alter oft zu beobach­tenden Bewegungs­mangel verbunden. Wird zu wenig getrunken, so beein­trächtigt auch das die Gesundheit des älteren Menschen aufgrund von Flüssig­keits­verlust. Eine gesunde Lebens­führung hilft indes Alters­er­schei­nungen erheblich zu begrenzen.

Paul Halbe: Welche gesund­heit­lichen Beein­träch­ti­gungen muss der Mensch akzep­tieren, wenn er älter wird?

Volkmar Feldt: Keine! Das notwendige Maß körper­licher Aktivität ist über den Stoff­wechsel weitgehend erforscht. Ein Energie­mehr­ver­brauch von ca. 2000 kcal pro Woche durch körper­liche Aktivi­täten gegenüber dem Ruheumsatz ist ausrei­chend. Die Bewegung sollte sowohl Gymnastik zur Kräftigung und zum Erhalt der Beweg­lichkeit als auch Bewegungen in Dauerform wie Gehen, Wandern, Radfahren und Schwimmen beinhalten. Das notwendige Maß an Wieder­ho­lungen, beispiels­weise für das Kraft­training, ist noch nicht genau erforscht.

Leider werden immer noch Forschungs­er­geb­nisse aus dem Leistungs­sport auf den Gesund­heits­sport übertragen. Das ist unredlich und führt zur Verun­si­cherung. Denn es geht nicht um Leistung. Im englisch­spra­chigen Raum gibt es den Begriff “Sport” in Assoziation mit Gesundheit nicht, man spricht hier von “physical-activity”. Gesunde Lebens­führung ist durch die Bereiche Bewegung, Ernährung und Entspannung deter­mi­niert, sie bedingen einander. Der Mensch ist bis ins hohe Alter trainierbar.

Paul Halbe: Welche Rolle spielt das soziale Umfeld für die Gesundheit?

Volkmar Feldt: Es gibt große indivi­duelle Unter­schiede. Allgemein: Soziale Kontakte sind für Menschen essen­tiell. Harmonie im sozialen Umfeld ist zwar grund­legend für die Gesundheit, kann aber wegen der unethi­schen Aspekte einer notwen­digen Kontroll­gruppe nicht evidenz­ba­siert erforscht werden.

Paul Halbe: Reicht Wohlbe­finden als Lebenssinn?

Volkmar Feldt: Wohlbe­finden ist ein subjek­tives Empfinden. Auch der Fixer fühlt sich nach seinem Heroin­schuss wohlig. Lebens­qua­lität ist das primäre Ziel von Bewegungsprogrammen.

Paul Halbe: Was ist besser: Voller Freude beim Wandern die Natur zu erleben oder die Natur als sport­liche Heraus­for­derung zu sehen?

Volkmar Feldt: Beim Wandern die Natur zu erleben!

Paul Halbe: Wie erreicht man ein Körper­be­wusstsein, das gegenüber Geist und Seele nicht dominant wird?

Volkmar Feldt: Diese philo­so­phische Frage ist so komplex und die Antwort multi­fak­to­riell, dass wir sie bei einem guten Rotwein disku­tieren sollten.

Feldt: 2009

 

Thema:
Die Voraussetzung dauerhaften Friedens: Versöhnung

Gesprächspartner:
Friedrich Kronenberg, promovierter Sozialwissenschaftler, über Erinnern und Versöhnen nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Kronenberg war CDU-Bundestagsabgeordneter und Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sowie Präsident des Maximilian-Kolbe-Werkes. 

Paul Halbe: Die Versöhnung der Völker Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ist keine Selbst­ver­ständ­lichkeit. Dies gilt insbe­sondere für Völker wie die Polen und die Deutschen. Auf Initiative deutscher Katho­liken wurde 1973 das Maximilian-Kolbe-Werk gegründet. Später wurde die Maximilian-Kolbe-Stiftung errichtet. Was ist die Aufgabe dieser Stiftung?

Friedrich Kronenberg: Aufgrund der Erfah­rungen im Maximilian-Kolbe-Werk wollen wir – polnische und deutsche Katho­liken – den Gedanken und das Bemühen von und um Erinnerung und Aussöhnung auf die Völker Europas insgesamt ausweiten. Denn nur wenn uns präsent ist, was Völker einander antun können und angetan haben, wird der Geist in Europa gestärkt, der Europa vor den Fehlein­stel­lungen der Vergan­genheit und vor egois­ti­schem natio­nal­staat­lichen Denken und Handeln bewahrt. Christen aller Konfes­sionen und alle Menschen guten Willens bitten wir, sich an den Werken der Versöhnung aus der Kraft der Erinnerung zu beteiligen.

Paul Halbe: Was sind Werke der Versöhnung?

Friedrich Kronenberg: Programme und Projekte, die wir durch­führen oder fördern wollen, sind unter anderen

  • die europäische Sommer­be­gegnung in Sarajewo;
  • die Pflege sowje­ti­scher Kriegs­gräber in Deutschland durch russische, weißrus­sische, ukrai­nische und deutsche Jugendliche;
  • Friedens­schulen im Kaukasus (Rostow am Don, Sotschi, Naltschik);
  • Besin­nungstage im Zentrum für Dialog und Gebet in Auschwitz;
  • sogenannte Enkel­pro­jekte, in denen die Geschichte von Unter­drü­ckung, Vertreibung und Krieg den Folge­ge­nera­tionen vermittelt wird.

Als erstes Projekt für das Jahr 2009 bereiten wir einen europäi­schen Friedenszug mit Jugend­lichen aus verschie­denen Ländern von Auschwitz über Warschau nach Berlin vor. Wir wollen anknüpfen an der in unserem histo­ri­schen Gedächtnis tief verwur­zelten Erinnerung an die ungezählten Eisen­bahnzüge, die Menschen in das Vernich­tungs­lager Auschwitz/Oswiecim trans­por­tiert haben. Die Umkehrung der Fahrt­richtung verdeut­licht den Kern jeglicher Versöh­nungs­be­mühung: die Bereit­schaft zur Umkehr, ohne die der Wille zur Versöhnung folgenlos bleibt. Die Erinnerung an die Züge in den Tod soll Friedenszüge junger Menschen in Fahrt bringen, deren Ziel das Leben ist, das Leben in einem freien und geeinten Europa.

Paul Halbe: Wer war Maximilian Kolbe, der Namens­geber der Stiftung?

Friedrich Kronenberg: Maximilian Kolbe war polni­scher Franzis­kaner-Pater. Er war Häftling im Konzen­tra­ti­ons­lager Auschwitz. Um einem seiner Mithäft­linge, einem Famili­en­vater, das Leben zu retten, ist er an seiner Stelle in den Tod gegangen.

Paul Halbe: Warum darf es kein Vergessen geben?

Friedrich Kronenberg: Weil Gegenwart und Zukunft immer aus der Vergan­genheit heraus sich gestalten. Auch wenn es keine Kollek­tiv­schuld gibt, so gibt es doch eine Verant­wortung, die aus Schuld im Zusam­menhang mit der eigenen Herkunft resul­tiert. Wenn man sich der Schuld in der Vergan­genheit nicht stellt, wirkt sie bedrängend in Gegenwart und Zukunft fort. Nur durch Versöhnung wird Schuld getilgt.

Paul Halbe: Leben noch ehemalige Auschwitz-Häftlinge, die sich an Maximilian Kolbe erinnern?

Friedrich Kronenberg: Vermutlich nicht. Der letzte Mithäftling von Maximilian Kolbe, der sich gemeinsam mit uns aktiv für Versöhnung einge­setzt hat, ist vor einiger Zeit im Alter von 86 Jahren gestorben. Seine Worte sind für uns Programm: “Durch Pater Kolbe lernte ich, Auschwitz mit anderen Augen zu sehen. In einem Todes- und Vernich­tungs­lager, in dem viele nur sich selbst retten wollten, sah ich plötzlich gute Menschen, die sich für andere einsetzten, frei von Egoismus.” Und: “Wenn Hass sich in Liebe verwandelt, entsteht Frieden.” Wie weit wir von diesem Frieden noch entfernt sind, das machen uns die Konflikte von heute jeden Tag mit grausamen Bildern deutlich.

Kronenberg: 2009

 

Thema:
Das Kräftefeld des Arbeitsmarktes

Gesprächspartner:
Ulrich Walwei, promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und Honorarprofessor für Arbeitsmarktforschung am Institut für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie der Universität Regensburg.

Paul Halbe: Was muss jeder von uns selbst tun, um sich künftig auf dem Arbeits­markt behaupten zu können?

Ulrich Walwei: Wer einen guten Schul­ab­schluss, eine abgeschlossene Berufs­aus­bildung oder ein Studium und die Bereit­schaft zum ständigen Weiter­lernen aufweist, hat gute Karten. Wir alle müssen uns darauf einstellen, dass der Wandel gerade in der Arbeitswelt immer schneller vonstatten gehen wird. Flexi­bi­lität und die Bereit­schaft, sich immer wieder auf neue Heraus­for­de­rungen einzu­lassen, sind ganz entscheidend für beruf­lichen Erfolg.

Paul Halbe: Politiker sehen es als eine ihrer Haupt­auf­gaben an, für möglichst viele Arbeits­plätze zu sorgen. Mit welchen Maßnahmen seitens des Staates kann dafür Sorge getragen werden, dass Arbeit­nehmer die Quali­fi­ka­tionen erwerben, die von den Unter­nehmen auf dem Arbeits­markt nachge­fragt werden?

Ulrich Walwei: Unser Schul­system muss unbedingt besser werden. Kinder aus bildungs­fernen Schichten werden derzeit viel zu wenig gefördert; hier verschwenden wir sehr viel Potenzial. Auch nach der Schule gilt es, die Durch­läs­sigkeit im Bildungs­system zu erhöhen. Da gibt es viele Ansatz­punkte: In der Berufs­aus­bildung könnte man zum Beispiel die Modula­ri­sierung voran­treiben. Generell muss der Staat lebens­langes Lernen stärker fördern als bisher. Das kann beispiels­weise mit der Förderung von klassi­schen Weiter­bil­dungs­an­ge­boten und mit der Öffnung der Hochschulen für Berufs­tätige erreicht werden.

Durch eine intel­li­gente Verschränkung von Theorie und Praxis kann viel gewonnen werden – die dualen Studi­en­gänge sind nicht ohne Grund ein Erfolgs­modell. Das heißt natürlich nicht, dass man die Funktion der Hochschulen auf Ausbil­dungs­ein­rich­tungen für die Wirtschaft verkürzen sollte. Forschung und Bildung darf man nicht auf unmit­tel­baren Anwen­dungs­bezug reduzieren. Und bei aller Verant­wortung des Staates und jedes Einzelnen in Bildungs­fragen möchte ich betonen: Die Unter­nehmen stehen auch selbst in der Pflicht, Ausbildung anzubieten und Weiter­bildung zu fördern.

Paul Halbe: Wie wird sich die Überal­terung in den kommenden Jahrzehnten auf dem Arbeits­markt auswirken?

Ulrich Walwei: Es wird einen starken Wettbewerb um junge und hochqua­li­fi­zierte Arbeits­kräfte geben. Gleich­zeitig werden die nachwach­senden Kohorten nicht mehr Quelle aller Innova­tionen sein können. Um beim Produk­ti­vi­täts­fort­schritt vorne zu bleiben, werden die Unter­nehmen der Weiter­bildung und Weiter­ent­wicklung ihrer Beleg­schaft einen wichti­geren Stellenwert als bisher einräumen müssen.

Paul Halbe: Wird es künftig noch vorge­gebene Alters­grenzen bei der Arbeit geben?

Ulrich Walwei: Nicht zuletzt wegen der steigenden Lebens­er­wartung gehe ich hier in Zukunft von mehr Flexi­bi­lität aus. Wir dürfen bei diesem Thema jedoch nicht vergessen: Bei belas­tenden Tätig­keiten bestehen besondere Schwie­rig­keiten. Hier muss dem Gesund­heits­schutz eine stärkere Rolle als bisher zukommen, um das Erreichen einer regulären Alters­grenze überhaupt zu ermöglichen.

Auch wenn das Erreichen einer Alters­grenze immer weniger mit einer erzwun­genen Beendigung des Arbeits­ver­hält­nisses einher­gehen wird: Als Orien­tie­rungs­punkt für die Alters­si­cherung bleiben Alters­grenzen wichtig, zum Beispiel um eine Eckrente zu berechnen.

Paul Halbe: Ist der Single der ideale Arbeitnehmer?

Ulrich Walwei: In der heutigen Arbeitswelt könnte man vielleicht auf den ersten Blick diesen Eindruck haben. Singles sind häufig räumlich mobil und flexibel, gerade mit Blick auf Arbeits­zeiten. Auf Dauer wird Zufrie­denheit aber sicher nicht allein durch Arbeit herge­stellt. Der perma­nente Single ist mögli­cher­weise irgendwann kein glück­licher und zufrie­dener Arbeit­nehmer mehr. Und das kann dann auch Auswir­kungen auf die Leistung haben. Die Verein­barkeit von Familie und Beruf zu fördern, liegt also im ureigensten Interesse der Unternehmen.

Paul Halbe: Vor Jahren wurden große Hoffnungen auf die Entwicklung der Telearbeit gesetzt. Doch die Entwicklung ist zögerlich. Ist die Trennung von Arbeiten und Wohnen in der Gesell­schaft so festge­schrieben, dass sie sich auch künftig erhalten wird?

Ulrich Walwei: Hier müssen wir diffe­ren­zieren. Telearbeit als ausschließ­liche Arbeitsform kommt oft nicht in Frage, weil es der persön­lichen Präsenz gegenüber Kunden oder dem Team bedarf. Temporäre Telearbeit gibt es aber durchaus – und das nicht nur in Sonder­fällen, zum Beispiel zur Kinder­be­treuung oder bei Erkrankung von Famili­en­mit­gliedern. Stark verbreitet ist auch das tageweise Arbeiten von zu Hause aus. Das hilft nicht nur, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, sondern kann auch kreative Freiräume schaffen.

Paul Halbe: Braucht der deutsche Arbeits­markt mehr Unternehmer?

Ulrich Walwei: Das kann man so allgemein nicht sagen. Es kommt sehr auf die Produkte und die Ideen der Selbstän­digen an. Wichtig sind dabei zudem die Motive: Wird aus der Not heraus ein eigenes Unter­nehmen gegründet oder aufgrund einer Geschäftsidee? Geht es um etablierte Märkte und wird dadurch ‚nur‘ der Wettbewerb gefördert oder handelt es sich um Pioniere? Von Letzteren können wir gar nicht genug haben. Hier ist auch das Bildungs­system gefragt, das die Selbstän­digkeit als wichtige Option vermitteln kann. Der Staat tut sicher gut daran, die Existenz­gründung gezielt zu fördern.

Paul Halbe: Die tradi­tio­nellen Karrieren lösen sich teilweise auf. Wird es künftig vorwiegend zu ‚Gelegen­heits­arbeit‘ kommen: Zeiten als Arbeit­nehmer wechseln mit Zeiten als Selbstän­diger, mit Zeiten inten­siver fachlicher Weiter­bildung, mit Famili­en­phasen und Auszeiten, mit Phasen beruf­licher Neuorientierung?

Ulrich Walwei: Die sogenannten ‚flockigen Biogra­phien‘ können zwar beim beruf­lichen Einstieg durchaus eine Rolle spielen. Es mag auch einzelne Branchen geben, zum Beispiel die Medien­branche, für die das tenden­ziell zutreffen kann. Auf breiter Front sind solche Entwick­lungen aber eher nicht wahrscheinlich. Auch in turbu­lenten Zeiten wollen die Unter­nehmen ihre Stamm­be­leg­schaften halten. Und die Arbeit­nehmer bevor­zugen in der Regel ein stabiles Umfeld und einen stabilen Einkommensstrom.

Paul Halbe: Wie wird sich die inter­na­tionale Arbeits­teilung entwickeln?

Ulrich Walwei: Als Hochlohnland liegt unsere Zukunft sicher nicht in der Massen­fer­tigung leicht herzu­stel­lender Produkte. Viele Chancen eröffnen sich für uns dagegen bei modernsten Techno­logien, die sehr viel Know-how erfordern. Die intel­li­gente Verknüpfung von Indus­trie­pro­duktion und ergän­zenden Dienst­leis­tungen könnte in Zukunft der Schlüssel zum Erfolg sein. Solche System­lö­sungen könnten Deutsch­lands Wettbe­werbs­po­sition auf dem Weltmarkt stärken.

Walwei: 2009

 

Thema:
Wann Psychologen helfen können

Gesprächspartnerin:
Iris Zukowski, freiberuflich tätige Psychologin in den Bereichen Beratung, Training, Coaching und integrative Therapie.

Paul Halbe: Die Komple­xität unserer Gesell­schaft, die rasanten Verän­de­rungs­pro­zesse und die weltweiten Auswir­kungen mensch­lichen Handelns machen immer mehr Leuten zu schaffen. Sie suchen Rat, Orien­tierung und konkrete Hilfe­stellung bei Dienst­leistern, die kompetent Einsichten und Erfah­rungen vermitteln, wie sich heute das Leben meistern lässt. Mit welchen Problemen kommen Menschen zu Ihnen?

Iris Zukowski: Die Probleme sind vielfältig. In den letzten Monaten gab es auffällig viele Burnout-Fälle, Angst- oder Panik­stö­rungen und Beziehungsprobleme.

Paul Halbe: Was erwarten Ihre Kunden/Patienten von Ihnen?

Iris Zukowski: Meine Klienten erwarten vor allem eine indivi­duelle Unter­stützung in einem ganzheitlich orien­tierten psycho­lo­gi­schen Rahmen. Das kann eine lösungs­ori­en­tierte Krisen­in­ter­vention in Form eines Coachings oder einer Hypno­se­sitzung sein oder eine länger­fristige thera­peu­tische Begleitung.

Paul Halbe: Kommen mehr Frauen oder Männer?

Iris Zukowski: In meiner Praxis ist der Anteil an Frauen etwas höher. Frauen zeigen tenden­ziell weniger Hemmschwellen, sich entspre­chende Unter­stützung zu holen. Männer suchen häufiger lösungs­ori­en­tierte Einzel­sit­zungen. Gegen Hypno­se­sit­zungen haben sie oft Vorbe­halte. Sie fürchten, die Kontrolle zu verlieren.

Paul Halbe: Gibt es unter den psychi­schen Erkran­kungen so etwas, was man mittler­weile als „Volks­krankheit“ bezeichnen könnte?

Iris Zukowski: Als „Volks­krankheit“ möchte ich kein Störungsbild bezeichnen. Fast jeder erlebt irgendwann einmal in seinem Leben eine psychische Krise, beispiels­weise eine Depression. So wie wir alle hin und wieder mal eine Grippe bekommen. Störungs­bilder wie das Burnout-Syndrom oder Angst- und Panik­stö­rungen sind aber deutlich auf dem Vormarsch.

Paul Halbe: Stammen die Probleme mehr aus der beruf­lichen Tätigkeit oder aus privaten Schwierigkeiten?

Iris Zukowski: Sowohl als auch. Da der Druck in allen Arbeits­be­reichen der Gesell­schaft wächst, gibt es immer häufiger psychische Störungen, die aus diesem Druck resul­tieren. Geht man tiefer, kann man sagen, dass vielen Menschen die psychi­schen Werkzeuge fehlen, mit Druck oder schwie­rigen Lebens­si­tua­tionen angemessen umzugehen. Das wirkt sich dann auch auf den privaten Bereich aus. Wenn es im Beruf nicht gut läuft, leidet meistens auch die Ehe. Alles ist mitein­ander verbunden. Tenden­ziell sind viele Deutsche perfek­tio­nis­tisch einge­stellt und haben häufig keinen guten Zugang zu ihren Gefühlen.

Paul Halbe: Lassen sich besondere Lebens­phasen beschreiben, in denen Menschen beson­deren psychi­schen Gefahren ausge­setzt sind?

Iris Zukowski: Ich möchte nicht von psychi­schen Gefahren sprechen. Es gibt Lebens­krisen, die aber letztlich dazu dienen, dass wir persönlich wachsen und seelisch reifen. Eine wichtige Umstel­lungs­phase scheint zwischen Ende Dreißig und Mitte Vierzig zu liegen. In dieser Lebens­phase häufen sich Störungsbilder.

Paul Halbe: Was sind die Haupt­be­las­tungen, die den Menschen heute zu schaffen machen?

Iris Zukowski: Einer­seits ist es der hohe Anspruch, den viele an sich selbst stellen; anderer­seits ist es der Anspruch, den die Gesell­schaft, vor allem die Arbeitswelt, an uns stellt. Von Bedeutung sind auch die globalen Verän­de­rungen, die unvor­stell­baren Katastrophen wie in Japan, Terror­an­schläge und sinnlose Kriege. Das verändert und belastet das Bewusstsein der Menschen kollektiv und indivi­duell. Viele stellen sich Fragen: Ist mein Leben noch sicher? Werden meine Kinder auf diesem Planeten eine Zukunft haben?

Deshalb: Die Menschen müssen aktiv werden! Wer passiv die Schrecken dieser Welt vor dem TV-Gerät verfolgt, schadet seiner Gesundheit und seiner Psyche.

Paul Halbe: Was muss der Einzelne tun, um ohne Ihre Hilfe sein Leben bewäl­tigen zu können?

Iris Zukowski: Er sollte sich selbst wahrnehmen und bewusst leben. Das setzt natürlich „Selbst­kenntnis“ voraus, die viele leider nicht haben. Man sollte seine Belas­tungs­grenzen kennen, für den passenden Ausgleich sorgen und vor allem akzep­tieren, dass sich Umstände und Gefühle im Leben verändern können. Mein Rat: Flexibel sein, Schwächen akzep­tieren und neugierig bleiben, was das Leben zu bieten hat. Wer mit Verän­de­rungen umgehen kann und die Dinge des Lebens nicht zu ernst nimmt, kann sein Leben „meistern“, nicht nur „bewäl­tigen“.

Paul Halbe: Können Lebens­per­spek­tiven, die sich an Ziele, Vorbilder und Sinnhaf­tigkeit knüpfen, Halt und Zufrie­denheit geben?

Iris Zukowski: Auf jeden Fall. Life with purpose – das ist essen­tiell. Wer keine Ideale, Ziele oder Werte im Leben verfolgt, ist ohne Halt und tieferen Sinn. Das ist ein Leben auf wacke­ligem Fundament. Der Glaube kann ebenfalls eine hilfreiche Kraft im Leben sein. Menschen, die glauben, bewäl­tigen Krisen sicherer und haltvoller. Einen Sinn im Leben zu finden und zu schaffen, erhöht die Lebens­zu­frie­denheit immens und gibt Kraft.

Paul Halbe: Welche psychi­schen Krank­heiten werden im Elternhaus grund­gelegt? Erzie­hungs­fehler oder Versäum­nisse? Trennung, Scheidung?

Iris Zukowski: Ich glaube nicht, dass es die vollkommen heile Kinder­stube gibt. Eltern müssen lernen, ihre Unvoll­kom­menheit zu akzep­tieren. Da man sich die Kinder nicht aussuchen kann, gibt es immer in irgend­einer Form Reibungen und Konflikte, Missver­ständ­nisse und Fehler. Das kann man positiv sehen: Als Spezies wie als Individuum können wir uns so immer weiter entwi­ckeln. Einfach ist Leben und Weiter­ent­wicklung nie.

Ich orien­tiere mich an der buddhis­ti­schen Philo­sophie: Alles macht Sinn – auch die Schwie­rig­keiten, in die wir hinein­ge­boren werden. Es geht letztlich immer um die Reifung und das Wachstum unserer Seele. Alles, was einem Menschen an Schwie­rig­keiten im Leben begegnet, liegt im Rahmen seiner Möglich­keiten. Schei­dungen, also die Trennung der Eltern, hinter­lassen ebenso Spuren auf der Kinder­seele, wie plötz­liche Todes­fälle, Missbrauch, Lieblo­sigkeit oder ein erhöhter Leistungs­druck im Elternhaus.

Einschränkend gilt für meine Arbeit: Psychische Krank­heiten sind nicht mein Einsatz­gebiet. Dazu zählen Psychosen, Schizo­phrenie und psycho­pa­thische Persön­lich­keits­stö­rungen, die im Elternhaus ihre Ursache haben, bezie­hungs­weise dort unter bestimmten Voraus­set­zungen ausgelöst werden.

Paul Halbe: Und welche Störungen können in Kinder­krippen, Kitas und Schulen verur­sacht werden?

Iris Zukowski: Überall können Störungen verur­sacht werden, wo Erwachsene lieblos und ohne Einfüh­lungs­ver­mögen mit Kindern umgehen.

Paul Halbe: Welche Rolle spielen die Medien bei der psychi­schen Verfassung von Menschen?

Iris Zukowski: Mittler­weile spielen die Medien eine große Rolle. Sie sind ein ständiger Angst­füt­terer, speisen unerreichbare Vorbilder in die Köpfe der Zuschauer und verbreiten Gewalt­vor­bilder. Das ist besonders für unsere Kinder gefährlich.

Paul Halbe: Wie entstehen Kommu­ni­ka­ti­ons­schwächen und wozu können sie führen?

Iris Zukowski: Da ist eine generelle Antwort nicht angemessen. Die Ursachen sind vielfältig. Es gibt intro­ver­tierte Persön­lich­keiten, Menschen, denen ein freies Auftreten und Sprechen schwer fällt. Es gibt auch Lebens­er­eig­nisse, die derart verun­si­chert haben, dass eine freie Kommu­ni­kation nicht mehr möglich erscheint, etwa Peinlich­keiten als Schüler an der Tafel oder die Kritik eines strengen Vaters. Viele Menschen blockieren sich zudem selbst, beispiels­weise durch ihren Hang zum Perfek­tio­nismus. Generell: Es wird zu wenig geredet – vor allem in Bezie­hungen – und es wird zu viel TV konsumiert.

Paul Halbe: Führungs­per­sonen sind in der Regel in einer „Sandwich“-Position: Sie haben ihrer­seits Chefs und sind anderer­seits Vorge­setzte. Was ist notwendig, um in einer Führungs­po­sition dauerhaft zu bestehen?

Iris Zukowski: Authen­tisch sein! Werte definieren und sich an dem orien­tieren, woran man glaubt und wofür man einsteht. Man sollte Fairness und Leistungs­mo­ti­vation mitbringen und das, was man tut, gern tun. Dann klappt es sowohl „nach unten“ als auch „nach oben“. Und wer Hilfe braucht, sollte sich nicht scheuen, sich hin und wieder Unter­stützung von einem guten Coach zu holen. Auch Entspannung ist wichtig. Damit meine ich: Immer wieder in die eigene Mitte finden!

Paul Halbe: Welche Ursachen hat Mobbing?

Iris Zukowski: Neben dem klassi­schen Konkur­renz­kampf und Konkur­renz­druck, liegen Mobbing­pro­ble­ma­tiken oft tiefer. Das Mobbing spiegelt häufig ein unbewusstes Selbst­wert­thema wider, das in dem Betrof­fenen liegt und im Außen – unbewusst – Resonanzen erzeugt.

Paul Halbe: Ist die Doppel­be­lastung von Beruf/Karriere und Partnerschaft/Familie ein allge­meines oder ein gelegent­liches Problem?

Iris Zukowski: Ein generelles Problem! Doppel-Belas­tungen sind immer ein Problem!

Paul Halbe: Wie wirkt sich Bezie­hungs­stress aus?

Iris Zukowski: Negativ. Stress schwächt das Nerven­system und damit Körper und Psyche.

Paul Halbe: Welche Unter­schiede bestehen zwischen den Männern und den Frauen, denen Sie helfen?

Iris Zukowski: Ich sehe jeden, egal ob Mann oder Frau, vor allem als Individuum mit einem indivi­du­ellen Anliegen und darauf stimme ich meine Inter­ven­tionen ab. Genera­li­sie­rungen mag ich zwar nicht so gern, dennoch kann man sagen, dass Frauen mehr Kompe­tenzen hinsichtlich ihrer Gefühle und deren Wahrnehmung mitbringen. Männer sind tenden­ziell eher rationale „step-thinker“, Frauen eher gefühls- und bezie­hungs­ori­en­tierte „empathic-thinker“.

Paul Halbe: Kommen Menschen mit religiösen Problemen zu Ihnen?

Iris Zukowski: Eher selten. Es gibt aber immer mehr Menschen, die einen spiri­tu­ellen Anspruch haben.

Paul Halbe: Gibt es Fälle, in denen Sie mit Ihren Möglich­keiten nicht helfen können?

Iris Zukowski: Es gibt durchaus Fälle, wo ich der Meinung bin, dass ein Kollege besser helfen könnte. Nicht jeder Therapeut/Coach ist für jeden geeignet, es muss zwischen­menschlich passen.

Zukowski: 2011

 

 

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