Kapitel 26

Was im Zusam­men­leben unerlässlich ist:
gemeinsame Werte

Den Meinungs­for­schern haben insbe­sondere die jüngeren Arbeit­nehmer in den späten 80er Jahren den Eindruck vermittelt, dass sie bei der Arbeit Spaß haben möchten, dass es ihnen um Lebens­freude, Selbst­ver­wirk­li­chung, Wohlfühlen, Kontakte, Zwang­lo­sigkeit geht. Pflicht und Unter­ordnung, Fleiß und Leistungs­druck, Ordnung und Arbeits­sys­te­matik wurden als überholt angesehen. Mit der 35-Stunden­woche ging die Sonne auf. Vom Werte­wandel war die Rede.

Das mag sich mittler­weile schon wieder etwas geändert haben. Unabhängig vom Zeitgeist gilt: Eine Gesell­schaft braucht Werte­ori­en­tierung. Spaß, Freude, Wohlbe­finden, Gesel­ligkeit, Sponta­neität – schön und gut, aber da gibt es noch einiges mehr. Was ist mit Genau­igkeit, Pünkt­lichkeit, Verläss­lichkeit, Ausdauer, Verant­wortung, Initiative, Flexi­bi­lität? Kunden verlangen Qualität und Termintreue.

Wir verlangen für unser Geld eine adäquate Ware oder Dienst­leistung, die unseren Quali­täts­an­sprüchen genügt. Wir möchten, dass die Züge pünktlich fahren, der Taxifahrer sofort kommt, Piloten ihre Arbeit fehlerfrei verrichten, in der Autowerk­statt ohne Pfusch gearbeitet wird, Ärzte dem hohen ethischen Anspruch ihres Berufes gerecht werden.

Welche Moral gilt für unser aller Handeln?

Beispiel: Da ist ein Kollege, der gelegentlich krank­feiert. Sie wissen das. Nun wird ihm vorge­worfen, er sei während seines letzten Krank­feierns in einem Baumarkt gesehen worden. Er bittet Sie, ihm ein Alibi zu bezeugen, das es nicht gibt. Tun Sie ihm den Gefallen?

Oder: Sie sind Maschi­nen­führer in einer Druckerei. Nachdem bereits ein Drittel der Auflage eines zu druckenden Plakates durch die Vierfarb­ma­schine gelaufen ist, entdecken Sie einen Fehler, den man aller­dings nur bei genauem Hinsehen bemerkt. Lassen Sie weiter­laufen – nach dem Motto “Merkt doch keiner” – oder drucken Sie neu? Auch wenn das Ärger mit Ihrem Chef wegen der zusätz­lichen Kosten und des Zeitverzugs geben wird?

Diszi­pli­nierte Arbeit einer­seits und Freude an der Arbeit anderer­seits – das schließt sich nicht aus. Man muss dazu die Werte nicht wandeln, sondern nur beide Seiten der Medaille sehen. Dann sieht man den Zeitdruck, die Quali­täts­vor­gaben, die Anstrengung und den Schweiß, aber auch die Freude, diesen Ansprüchen gewachsen zu sein.

Das Schla­raf­fenland gibt es nicht. Die Politiker, die es in dieser Welt zur Wirklichkeit machen wollten, haben das Gegenteil erreicht. In dem bisschen Speck, der schließlich noch übrig war, lebten nur die Funktionäre wie die Maden.

Lassen Sie sich nicht das Rückgrat brechen!

Ohne Werte­ori­en­tierung können Sie keine eigen­stän­digen Entschei­dungen treffen. Weder für sich selbst noch für andere. Deshalb: Welche Werte sind für Sie maßgebend? Wer sich dieser Frage nicht stellt, gibt sich in seinem Verhalten der Außen­steuerung durch seine Umwelt preis: Er verhält sich entspre­chend dem Milieu, in dem er lebt, er richtet sich nach dem herrschenden Zeitgeist.

Was Anerkennung bringt und was das warme Gefühl des Dazuge­hörens gibt, das bestimmt Denken, Reden und Handeln. Je nach politi­scher und gesell­schaft­licher Wetterlage: Gestern KZ-Aufseher, heute eifrige Block­pfeife. Und vor den Gerichten zur Bestrafung von NS-Verbrechen wird zu Protokoll gegeben, nur ein kleiner Mitläufer gewesen zu sein. Hier zeigt sich fremd­be­stimmtes und nicht selbst­be­stimmtes Leben: Mitläufer.

Mit seinem Tun und Handeln sollte man vor sich selbst bestehen können. Das Bestreben, die Anerkennung anderer zu finden und sich deren Meinung zu eigen zu machen, ist verant­wor­tungslos. Bequem­lichkeit und Feigheit stecken dahinter. Die Bequem­lichkeit, sich nicht selbst mit den Heraus­for­de­rungen des Lebens ausein­ander zu setzen, und die Feigheit vor Konflikten, sowohl mit sich selbst als auch mit den Mitmenschen.

Als Erwach­sener verant­wortlich leben heißt im Gegensatz dazu: einen persön­lichen Stand­punkt gemäß morali­scher Werte haben. Dann kann ich vor mir selbst bestehen, vor meinem Gewissen. Wenn meine persön­liche Werte­ori­en­tierung mit der meines Arbeit­gebers nicht vereinbar ist, bleibt nur die Kündigung.

Woher nehmen Sie Ihre Entscheidungskriterien?

Versetzen Sie sich in folgende Situation: Sie sind Abtei­lungs­leiter. Ihr Unter­nehmen muss Personal abbauen. Der Chef hat Ihnen vorge­geben, dass Sie sich von zwei Mitar­beitern trennen müssen. Sie sollen ihm diese vorschlagen. Fünf Mitar­beiter kommen infrage. Ihre Kurzcharakteristik:

G.H.: durch­schnittlich quali­fi­ziert, nicht belastbar, Famili­en­vater, würde vermutlich zumindest vorüber­gehend arbeitslos.

S.P.: weiß aufgrund seiner langen Betriebs­zu­ge­hö­rigkeit sehr viel, arbeitet langsam, redet viel, Kinder sind schon erwachsen, würde wegen seines Alters kaum noch eine neue Stelle finden.

N.T.: überdurch­schnittlich quali­fi­ziert, aber starke Leistungs­schwan­kungen, keine Familie, teure Hobbys, hätte schnell eine neue Stelle.

A.D.: hat immer gute Laune, hin und wieder unter­laufen ihm schwer­wie­gende Fehler, zur Übernahme auch unange­nehmer Arbeit bereit, Chancen am Arbeits­markt vermutlich gering.

F.W.: überdurch­schnittlich leistungs­fähig, aber eigen­willig und oft unkol­legial, infor­miert nicht, schweig­samer Typ, Arbeits­markt­chancen schwer zu beurteilen.

Welche zwei Mitar­beiter werden Sie vorschlagen?

Verant­wort­liches Handeln sowohl Ihrer­seits wie von Seiten der Unter­neh­mens­führung würde sich zeigen, wenn Werte formu­liert sind und entspre­chende Richt­linien als Entschei­dungs­hilfen vorliegen. Beispielsweise:

  1. Jeder Mitar­beiter ist für seine fachliche Kompetenz ebenso wie für sein Sozial­ver­halten selbst­ver­ant­wortlich. Das Unter­nehmen gibt dazu Anstöße und Hilfe­stellung. Es gibt ein Beurtei­lungs­system und Zielvereinbarungen.
  2. Das Unter­nehmen nutzt die verschie­denen Möglich­keiten des Arbeits­marktes und der Organi­sa­ti­ons­ent­wicklung, um seine Beschäf­ti­gungs­mög­lich­keiten der Auftragslage entspre­chend flexibel handhaben zu können.
  3. Kündi­gungen werden nur ausge­sprochen, wenn ein Mitar­beiter seiner Selbst­ver­ant­wortung nicht genügt und Markt­ein­brüche und Markt­ver­än­de­rungen nicht ohne Gefährdung des Gesamt­un­ter­nehmens aufge­fangen werden können.

Worauf es ankommt: Die morali­schen Kategorien, nach denen gedacht, geredet und gehandelt wird, müssen allgemein verbindlich erarbeitet und festgelegt, trans­parent und konse­quent angewendet und von allen – besonders von den Führungs­per­sonen – gelebt werden. Dann können Sie als Vorge­setzter verant­wortlich handeln. Sowohl die einzelnen Firmen­mit­glieder als auch die Gemein­schaft aller im Unter­nehmen Beschäf­tigten brauchen eine überein­stim­mende moralische Ausrichtung. Die stellt sich nicht von alleine heraus, sondern muss geschaffen und erhalten werden.

Toleranz und Solidarität

Das Zusam­men­leben von Menschen lässt sich auf Dauer nur dann einiger­maßen frei von belas­tenden oder gar zerstö­re­ri­schen Ausein­an­der­set­zungen halten, wenn die Maßgaben von Toleranz und Solida­rität in einem ausba­lan­cierten Verhältnis zuein­ander stehen. Toleranz und Solida­rität bedingen einander. Beide können sich zum Wohle des einzelnen in Gemein­schaft mit anderen entfalten, wenn sie nicht gegen­ein­ander ausge­spielt werden, die Toleranz nicht zu Lasten der Solida­rität gelebt wird und umgekehrt.

Solida­rität, die sich auf Kosten der Toleranz breit macht, schränkt die indivi­duelle Freiheit ein, wird zum Gemein­schafts­zwang, führt zur Unfreiheit des von Funktio­nären beherrschten Kollektivs. Toleranz, die auf Kosten der Solida­rität in Anspruch genommen wird, zersetzt die Gemein­schaft, führt zur Diktatur der Stärkeren.

Toleranz und Solida­rität sind Schlüs­sel­be­griffe, die von Ideologen derart missbraucht worden sind, dass sie kaum noch vorur­teilsfrei benutzt werden können. Sie dienten und dienen immer noch als Kampf­be­griffe. Beispiels­weise wird die Solida­rität der Arbeit­nehmer gegen die Arbeit­geber beschworen; zu Toleranz wird in der Regel von denen aufge­rufen, die ihren eigenen Vorstel­lungen und Aktionen mehr Geltung verschaffen wollen. Beides schädigt Gemeinschaft.

Dennoch sind die beiden Begriffe für den Werte­ho­rizont von Gemein­schaften wie Familie, Volk, Nation, Unter­nehmen und anderen nicht zu entbehren. Toleranz und Solida­rität müssen deshalb mit neuer Verbind­lichkeit ihre ursprüng­liche Wirkkraft zurück­er­halten. Das geht nur über die täglich gelebte und entspre­chend dem Begriffspaar gestaltete Wirklichkeit.

Freiheit leben in Verant­wortung für seine Mitmenschen

Die Weisheit einer Gesell­schaft spiegelt sich darin, wie im Zusam­men­leben der Individuen Solida­rität und Toleranz dazu führen, Gemein­schaft zu stiften und zu erhalten – Gemein­schaft, die jedem seine Freiheit in Verant­wortung den anderen gegenüber lässt und die den Frieden zum Wohle aller bewahrt. Das ist wie in großen Familien: Es gibt Konflikte, doch das Begriffspaar sorgt dafür, dass es zu keinem “Bürger­krieg” kommt. Denn man weiß: Zum Überleben braucht man einander.

Jeder Mensch lebt in mehreren Gemein­schaften mit unter­schied­lichem Bindungsgrad. In einige Gemein­schaften wird man hinein­ge­boren: Familie, Volk, Religi­ons­ge­mein­schaft, Milieu. Im Laufe seines Lebens kann man die eine oder andere Gemein­schaft wechseln und neue hinzu­wählen: Arbeits­kol­legen, Nachbarn, Freun­des­gruppen. Jede dieser Gemein­schaften hat ein anderes Toleranz-Solida­ritäts-Gefüge, entspre­chend den verschie­denen Zielset­zungen, Inter­essen und Traditionen.

Allen gemeinsam sein sollten die sogenannten Grund­werte, an denen sich fest macht, was an Indivi­dua­lität zu tolerieren und was in Verant­wortung fürein­ander an Egoismus auszu­schließen ist. Gereifte Gesell­schaften haben in ihrer Organi­sa­ti­onsform als Staat ihre Grund­werte in einer Verfassung nicht nur formu­liert, sondern bringen sie im Zusam­men­leben ihrer Bürger tagtäglich zum Ausdruck. Und Demagogen finden kein Gehör.

Gemeinsame Grund­werte sind deshalb wichtig, weil die zahlreichen und vielfäl­tigen Gemein­schaften einer Gesell­schaft nicht nur nach innen Toleranz und Solida­rität üben müssen, sondern Toleranz und Solida­rität auch zwischen den Gemein­schaften prakti­ziert werden muss.

Zwischen vielen Gemein­schaften – Unter­nehmen, Parteien, Religi­ons­ge­mein­schaften, Gewerk­schaften, Verbänden, Vereinen – besteht Wettbewerb: um Kunden, um Wähler, Anhänger, sport­liche Siege und so weiter. Damit diese selbst­ver­ständ­lichen Ausein­an­der­set­zungen nicht zu Feind­schaften, zu offenem oder verdecktem Krieg führen, muss das Bekenntnis zu den allen gemein­samen Werten immer wieder betont und einge­fordert werden.

Jeder ist mitver­ant­wortlich für sein Lebensumfeld

Wer die “Allge­meine Erklärung der Menschen­rechte”, die am 10. Dezember 1948 durch die Vollver­sammlung der Vereinten Nationen verab­schiedet wurde, heute liest, der hat angesichts der täglichen Nachrichten über das Geschehen in der Welt nicht viel Grund zur Freude. Denn man gewinnt den Eindruck, dass die Verwirk­li­chung der Menschen­rechte eher auf dem Rückzug als auf dem Vormarsch ist.

Artikel 1 der insgesamt 30 Artikel der Menschen­rechts-Erklärung lautet: “Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüder­lichkeit begegnen.”

Das Wehklagen darüber, dass vielen ungebo­renen Menschen bereits Würde und Rechte genommen sind und die geborenen zwar vielfach ihre Vernunft gebrauchen, aber sich dabei gewis­senlos verhalten und Brüder­lichkeit vermissen lassen – das darf nicht die Verpflichtung eines jeden von uns verdrängen, sich unablässig und aktiv für die Menschen­rechte einzu­setzen, sie zur Richt­schnur für das eigene Verhalten zu machen.

In vielen grund­le­genden Dokumenten sind die Menschen­rechte formu­liert worden; sie sind einge­gangen in die Verfas­sungen vieler Staaten und maßgebend für Staaten­ge­mein­schaften wie die Europäische Union. Auch wurden Insti­tu­tionen wie Gerichtshöfe geschaffen, um Vergehen gegen die Mensch­lichkeit bestrafen zu können. Aber man hat nicht den Eindruck, das habe viel bewirkt.

Dennoch darf man all dieses Bemühen nicht gering schätzen, sondern es sollte vielmehr jeder sein eigenes Bemühen verstärken. Wir alle sind mitver­ant­wortlich für das Umfeld, in dem wir leben. Die 10 Gebote sind nicht deshalb hinfällig, weil die Hälfte von ihnen beiseite geschoben worden ist und gegen die restlichen Gebote immer wieder verstoßen wird.

Gemeinsame Werte­vor­stel­lungen entwi­ckeln und pflegen, folgt der uralten Erfahrung der Menschen, dass sie nur als Gruppe überleben können. Sich gegen­seitig bestehlen, belügen, töten, misshandeln, missachten, unter­drücken führt zum Untergang. Die Formu­lierung der Menschen­rechte und der Versuch, sie weltweit durch­zu­setzen, ist das Verständnis der Menschheit als einer Gemein­schaft, deren Überleben auf dem Spiel steht.

Katastrophen wie der Zweite Weltkrieg befördern diese Einsicht. Doch diese hat sich in den vergan­genen Jahrzehnten wieder verflüchtigt. Ob die Klima­ver­än­derung ein neues Gefühl von Völker­ge­mein­schaft wachrufen kann, das zu gemein­samem Handeln führt, ist ungewiss.

Der Staat als Garant der Grundwerte

Aufgabe der staat­lichen Führung ist, den Bürgern Sicherheit in ihrer Werte­ori­en­tierung zu geben. Freiheit, Würde, Frieden. Leben und Eigentum müssen beispiels­weise ausrei­chend geschützt sein, die Früchte von Arbeit und Leistung dürfen nicht abkas­siert und Initiative sowie Risiko­be­reit­schaft nicht aussichtslos gemacht werden.

Der Staat bezie­hungs­weise die ihn tragenden Kräfte sind verant­wortlich für die Rahmen­be­din­gungen zur Umsetzung der Werte, die einer Gesell­schaft zugrunde liegen. Denn der Staat hat hoheit­liche Funktion. Er ist beispiels­weise zuständig für die Innere Sicherheit, einen Kernbe­reich im Zusam­men­leben der Menschen.

Wirtschafts­ab­läufe brauchen ethische Grund­lagen, die in Gesetzen und anderen Rahmen­be­din­gungen festgelegt sind. Aber man kann nicht alles legis­lativ regeln. Deshalb gibt es den Grundsatz von “Treu und Glauben”. Politiker, die jedes moralische Fehlver­halten durch Regle­men­tie­rungen unmöglich machen wollen, erreichen das Gegenteil: Keiner blickt mehr durch; und die Skrupel­losen, die Cleveren beherr­schen das Feld.

Kommt dann noch zum Vorschein, dass dieje­nigen, die die Gesetze beschließen und dieje­nigen, die für ihre Beachtung sorgen sollen, sich haben verführen lassen und korrupt sind, verkommt die Moral einer Gesellschaft.

Da können im Grund­gesetz noch so hehre Werte formu­liert sein – wenn die Vorbild­funktion von denen, die den Staat reprä­sen­tieren, nicht wahrge­nommen und ausge­füllt wird, empfinden die Bürger sich als die Dummen und versuchen, sich ihrer­seits schadlos zu halten. Schlechte Beispiele verderben gute Sitten. Die Folgen müssen alle tragen.

Die Notwen­digkeit ausba­lan­cierter Werte im Handeln des Staates zeigt sich in Formu­lie­rungen wie “sozial­pflich­tiges Eigentum” und “verant­wortete Freiheit”, wie sie zur Kennzeichnung der Sozialen Markt­wirt­schaft – auch eine Balance-Formu­lierung – benutzt werden. Staaten, die es nicht schaffen, Werte­ba­lance herzu­stellen und zu erhalten, geraten in einen Prozess der Werteerosion.

Dann zerfällt das Gemein­wesen in Grupie­rungen, die nach ihrem Gusto ausge­wählte Einzel­werte wie “soziale Gerech­tigkeit” in den Köpfen der Menschen zu verankern suchen. “Soziale Gerech­tigkeit” ist ein demago­gi­scher Kampf­be­griff, eine Nebel­kerze. Gibt es unsoziale Gerech­tigkeit? Oder soziale Ungerechtigkeit?

Mit allen Mitteln moderner Kommu­ni­kation wird “Soziale Gerech­tigkeit” zur beherr­schenden Werte­vor­stellung gemacht – und soll seine Verfechter in die solcher­maßen legiti­mierten Herrschafts­po­si­tionen bringen. Der Wettbewerb der demokra­ti­schen Kräfte eines Staates um die Regie­rungs­gewalt ist entartet, wenn es keine allen gemeinsame Grundlage ausba­lan­cierter Werte gibt. Bei allem Streit – wie in einer Familie – muss es einen Werte­konsens geben, der zusammenhält.

Werte­vor­stel­lungen entwickeln

Alle, die ihr Leben und damit vor allem ihre Arbeit selbst­ver­ant­wortlich gestalten wollen, müssen sich mit den Werten beschäf­tigen, die für sie maßgebend sind. Unabhängig davon, ob sie Selbständige oder Angestellte sind. Auch als Mitglied eines Unter­nehmens braucht man Rückgrat, wenn man Herr seiner Arbeit sein will und nicht Arbeits­kraft. Zur Selbst­be­stimmung gehört der eigene moralische Stand­punkt. Das Gewissen verlangt Konsequenz.

Es kommt deshalb darauf an, sich im Laufe seines Lebens immer wieder Rechen­schaft zu geben, warum man sich so und nicht anders verhalten hat. Man muss seine Werte­vor­stel­lungen ständig überprüfen und ihnen in seinem Verhalten Ausdruck verleihen. Dann gewinnen sie Leucht­kraft. Anderen­falls kommt man aus dem Dämmer­licht situa­tiven und wider­sprüch­lichen Verhaltens nicht heraus.

Aber woher kommen die Werte, die eine Familie, eine Unter­neh­mens­ge­mein­schaft, ein Volk, einen Staat, die Menschheit zusam­men­halten? Und die gleicher­maßen jedem einzelnen Lebens­ori­en­tierung geben? Das ist die Frage nach der Religion und den sinnge­benden Insti­tu­tionen. Den christ­lichen Kirchen wird der Vorwurf gemacht, in der Werte­dis­kussion zu versagen. Sie hätten keine akzep­tablen Antworten für eine gegen­warts­taug­liche Moral.

Nur eine schwin­dende Zahl junger Menschen bezieht noch ihre Verhal­tens­normen aus der Sinngebung der Kirchen, die dem sogenannten Abendland einmal das Welt- und Menschenbild gaben. Die Mehrheit lebt auf Inseln unter­schied­licher, schwan­kender und diffuser Werte­vor­stel­lungen im Strom der Zeit. Nicht wenige driften als Erwachsene ab in die Esoterik.

Um nicht zum Spielball der Milieus, in denen man sich bewegt, und zur Manövrier­masse von Agita­toren zu werden, muss sich jeder um festen Grund und einen verläss­lichen Kompass bemühen. Und da könnte es dann doch hilfreich sein, sich mit den in Jahrhun­derten erwor­benen Erfah­rungen der Kirchen und ihrer Aufbe­reitung für den Alltag zu beschäf­tigen. Was etwa gemeint ist, wenn von Tugenden wie Klugheit, Gerech­tigkeit, Tapferkeit und Mäßigung, von Glaube, Hoffnung und Liebe die Rede ist?

Es gibt Kernfragen, deren Beant­wortung für die Art und Weise, wie wir unser Leben führen, wie wir es planen, wie wir es mit Freude und Liebe füllen, wie wir es einsetzen und zu Ende bringen, entscheidend sind. Ich lebe anders, wenn ich an ein Leben nach dem Tod glaube, als wenn ich glaube, mit dem Funkti­onsende meines Körpers sei auch ich tot.

Moral verlangt Eigen­stän­digkeit 

Die Größe von Gemein­schaften reicht von der Zweier­ge­mein­schaft des Paares bis zur Verbun­denheit aller Menschen. Dazwi­schen liegen die unzäh­ligen Varianten von Verei­ni­gungen. Jede Gemein­schaft ist darauf aus, sich ihren Zielen entspre­chend zu organi­sieren. Dazu muss eine aktions­fähige Größen­ordnung gefunden werden. In der Regel werden Unter­tei­lungen notwendig. Großor­ga­ni­sa­tionen brauchen Struk­turen, die Teilungen bis zum einsatz­fä­higen Team vorort möglich machen.

Das Zusam­men­leben in den Unter­gruppen der Gesell­schaft – beispiels­weise in den Unter­nehmen – orien­tiert sich an den Notwen­dig­keiten erfolg­reichen Agierens. Von jedem einzelnen Mitar­beiter werden die entspre­chenden fachlichen Quali­fi­ka­tionen verlangt. Außerdem soziale Kompetenz. Die wirkt sich aus in den gruppen­dy­na­mi­schen Prozessen der verschie­denen Unter­neh­mens­ein­heiten. Und sie ist heute mehr denn je für den Unter­neh­mens­erfolg ausschlag­gebend. Zur sozialen Kompetenz gehört Werteorientierung.

Wir alle neigen dazu, unsere Moral­vor­stel­lungen weniger in einem persön­lichen Emanzi­pa­ti­ons­prozess zu entwi­ckeln, als vielmehr dazu, uns den Verhal­tens­vor­stel­lungen anderer anzuschließen. Das erspart die eigen­ständige Ausein­an­der­setzung mit Werte­vor­stel­lungen, lässt einem die Bequem­lichkeit des Drücke­bergers. Vor sich selbst und den Mitmen­schen hat man die Ausrede: Die anderen machen es doch auch so!

Eigenes Fehlver­halten wird mit dem Fehlver­halten anderer Gruppen­mit­glieder entschuldigt. Man steht auf Seiten der Mehrheit, und die Mehrheit hat immer recht. So stiehlt man sich aus der Verant­wortung. Manch einer gibt noch den Hinweis: Was kann ich denn schon gegen die Mehrheit ausrichten? Dem ist zu entgegnen:

  • Jeder ist für sein Denken, Reden und Handeln ausschließlich selbst verantwortlich.
  • Seiner morali­schen Verant­wortung wird gerecht, wer die maßge­benden Werte in Eigen­stän­digkeit entwi­ckelt und konse­quent nach ihnen handelt.

Den persön­lichen Stand­punkt finden

Wie entwickle ich Eigen­stän­digkeit? Das Mittel für die “moralische Selbst­er­ziehung” ist das Tagebuch. Stellen Sie sich jeden Abend Fragen wie diese:

  • Wem habe ich heute auf die Füße getreten?
  • Wem habe ich einen Dienst erwiesen?
  • Über wen habe ich warum schlecht geredet?
  • Habe ich Freude bereitet?
  • Habe ich die Wahrheit zu wessen Nachteil manipuliert?
  • War ich feige?
  • An wem habe ich meine schlechte Laune ausgelassen?

Wenn Sie durch die Beant­wortung solcher Fragen heraus­ge­funden haben, wo die Defizite in Ihrer Entwicklung zu moralisch verant­wort­lichem Handeln liegen, formu­lieren Sie Ihre Vorsätze, die Sie in Stich­worten auf Karten schreiben. Dazu eignen sich beispiels­weise die Rückseiten überholter Visiten­karten. Stecken Sie diese in Jacken‑, Hosen- und Hemdta­schen, so dass Sie immer wieder erinnert werden.

Im neuen Testament können Sie in den Paulus­briefen nachlesen, was den jungen christ­lichen Gemeinden in Rom und Korinth für ihr Zusam­men­leben als Verhal­tens­auf­for­de­rungen geschrieben wurde. Dort ist von den unter­schied­lichen Begabungen und Fähig­keiten die Rede, die jedem gegeben sind und die er in die Gemein­schaft einbringen soll. Paulus ist ganz konkret, beispielsweise:

  • “Seid einander in brüder­licher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegen­sei­tiger Achtung!” (Römer, 12,10)
  • “Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden!” (Römer, 12,18)
  • “Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit.” (1 Korinther, 13,4–6)

Das sind Sätze, deren Beher­zigung unserem Zusam­men­leben in den unter­schied­lichen Gemein­schaften gut tun würde. Es ist unsere Aufgabe, gegen­seitige Achtung und geschwis­ter­liche Liebe zu unserer Lebens­ein­stellung zu machen.

error: Content is protected !!