Kapitel 1

Die Balan­cier­stange des Lebens: Selbstbewusstsein

Denken, reden und handeln sind die Lebens­äu­ße­rungen, in denen sich unser Selbst­be­wusstsein darstellt. Wer sein Leben selbst bestimmen will, muss sich der Verant­wortung für seine Gedanken, Worte und Taten klar sein — und daraus seinen Selbstwert entwickeln.

Arbeit­su­chende bitten in ihren Bewer­bungs­schreiben in aller Regel um ein Vorstel­lungs­ge­spräch. Sie tun das in der Überzeugung, dass die beigefügten Zeugnisse und die Daten des Lebens­laufs ihre Person nur unvoll­kommen erkennen lassen. Diese Meinung teilen Unter­nehmer und ihre mit Einstel­lungen befassten Mitar­beiter. Bei der Endauswahl zur Besetzung einer Stelle wollen sie sich von den Kandi­daten mittels eines Gesprächs einen persön­lichen Eindruck verschaffen.

Wie soll ich mich geben? Wie soll ich auftreten, um zu zeigen, dass ich die richtige Person für die ausge­schriebene Stelle bin? Diese Fragen beschäf­tigen den Kandi­daten bei der Vorbe­reitung auf das Gespräch. Der Arbeit­geber ist nach dem Check der fachlichen Eignung anhand der Unter­lagen daran inter­es­siert, etwas von den Eigen­schaften und Einstel­lungen des Bewerbers zu erfahren. Was für ein Selbst­be­wusstsein hat der Kandidat? Passt er in unsere Mannschaft? Stimmt die „Chemie“?

Beide, Bewerber und Arbeit­geber, wissen, dass erst die Probezeit einige Gewissheit schaffen wird, ob man zuein­ander passt oder nicht.

Hinein­ge­boren in die Welt der Eltern

Aller Psycho­logie zum Trotz: Man kann in einen Menschen nicht hinein­sehen; kein Mensch lässt sich ausleuchten; niemand kennt sich selbst bis ins Letzte. Erst im Laufe des Lebens stellt sich heraus, mit welchem Denken, Reden und Handeln ich meinen Weg gehe, ich mich in der Welt zurecht finde, Heraus­for­de­rungen bestehe, Enttäu­schungen verkrafte, Konflikte löse, Irrtümer korri­giere, meiner Existenz einen Sinn gebe.

Um Stabi­lität und Konti­nuität im Leben zu gewinnen, die Halt auf dem Drahtseil der Lebens­ge­staltung geben, brauche ich Selbst­be­wusstsein. Denn nur dann habe ich zu mir das Vertrauen, meinen Lebensweg aus eigener Kraft zu gehen. Als Kind habe ich Lebens­willen, aber noch kein Selbst­be­wusstsein. Das gewinne ich erst nach und nach durch die Erfah­rungen mit meiner Umwelt, vor allem durch die Erfah­rungen mit meiner Mutter, meinem Vater und den anderen Personen, in deren Umfeld ich hinein­ge­boren werde.

Bestimmend für mich als Baby und Kleinkind, als Betreuungs- und Kitamensch wird die Zuneigung und Lebens­be­stä­tigung, das Vorbild und die Anleitung, die man mir zuteil werden lässt. So erlange ich Selbst­si­cherheit. Eine vom Umfeld abhängige Sicherheit, keine Lebens­si­cherheit aufgrund eigener Überle­gungen und Entschei­dungen. Eine von Gefühlen abhängige Sicherheit.

Als Kind fehlt es mir an ausge­reifter Wahrneh­mungs­fä­higkeit, an intel­lek­tu­ellen Fähig­keiten und Verhal­tens­ori­en­tierung. Lernend wachse ich erst einmal in das hinein, was mir die Erwach­senen als ihre Welt vorleben: ihre Vorstel­lungen von Lebens­ge­staltung und ihre Verhal­tens­weisen, ihr Milieu.

Jeder ist Kind seiner Zeit

Jede Mutter, jeder Vater, jede Betreuerin, jede Erzie­herin, jeder Lehrer leben ihre indivi­du­ellen Lebens­ein­stel­lungen aus ihrem indivi­du­ellen Selbst­be­wusstsein heraus und sind alle Kinder ihrer Zeit. Und sie begehen Erzie­hungs­fehler. Einer der schlimmsten Erzie­hungs­fehler ist es, wenn die Mutter zur Bekräf­tigung einer Maßre­gelung zu ihrem Kind sagt: „Was sollen die Leute von uns denken!“ Damit liefert sie ihr Kind dem Zeitgeist aus, orien­tiert es auf Fremd­be­stimmung hin – und verrät ihr eigenes schwaches Selbstbewusstsein.

Jede Zeit hat ihre beson­deren „Balan­cier­stangen“. Unsere Zeit drängt den Beruf als zu wählende „Stange“ auf. Ich muss berufs­tätig sein, um in unserer Gesell­schaft anerkannt zu sein. Wer in unserer Gesell­schaft, ob Mann oder Frau, einer geregelten Arbeit nachgeht, die ihm aufer­legten Steuern und die Beiträge für die Absicherung seiner Lebens­ri­siken zahlt, wird als vollgül­tiges Mitglied der Gesell­schaft anerkannt. Entspre­chend dem Einkommen, das er aufgrund seiner beruf­lichen Quali­fi­kation erzielt, kann er am allge­meinen Wohlstand teilhaben.

Der Arbeits­platz ist zum Dreh- und Angel­punkt unserer Existenz geworden. In all den Jahrhun­derten zuvor gab die Zugehö­rigkeit zu einer Familie, zu einem Clan und zu einem Volk Selbst­be­wusstsein – heute: der Beruf! Die Problem­kinder unserer Gesell­schaft sind nicht mehr die schwarzen Schafe einer Familie, sondern die Menschen, die nichts gelernt haben. Man muss einen dem Wohlstand der Gesell­schaft dienlichen Beruf haben.

Das Selbst­be­wusstsein der Freiheit

Frauen, die in tradi­tio­neller Arbeits­teilung der Geschlechter an der Seite ihres Mannes für die Familie sorgen und als Mutter die Erziehung ihrer Kinder leisten – und deshalb dem Arbeits­markt nicht zur Verfügung stehen –, müssen heute ein starkes Selbst­be­wusstsein haben und getragen sein von ihrer Familie. Denn die Gesell­schaft schenkt ihnen keine Anerkennung. Im Gegenteil: Sie werden verächtlich gemacht. Die Quali­fi­kation der Hausfrau und Mutter, die bis vor einigen Jahrzehnten in den Familien von Generation zu Generation weiter­ge­geben wurde, ist abhanden gekommen. Im Streit der Politiker um das Erzie­hungsgeld ist abschätzig von „Herdprämie“ die Rede.

Aber die Frauen, die ihre Familien-Quali­fi­kation noch mitbe­kommen oder sich neu erworben haben, zeigen: der Mensch – ob Mann oder Frau – ist fähig, sein ganz persön­liches Selbst­be­wusstsein zu entwi­ckeln! Als Mitglied einer Gruppe und als Individuum. Niemand ist dazu verdammt, sein Leben mit dem Selbst­be­wusstsein zu leben, das ihm die Gesell­schaft aufdrängt.

Noch ein Blick zurück in die Geschichte: In den Jahrhun­derten zuvor wurde der Status eines Menschen dadurch bestimmt, in welche Familie er hinein­ge­boren wurde. Bauer, Leibei­gener, Adeliger. Außerdem war es opportun, zu den Siegern im Gewoge der Kriege zu gehören. Denn sonst war man Sklave.

Die Revolution des Chris­tentums: Vor Gott sind alle Menschen gleich! Das gab den Menschen das Selbst­be­wusstsein der Freiheit. Nur Freiheit befähigt, ein eigenes Selbst­be­wusstsein zu leben.

Unser Verhalten lässt unser Selbst­be­wusstsein erkennen

Woraus entwi­ckeln wir Selbst­be­wusstsein? Eine bestandene Prüfung? Ein gewon­nener Wettbewerb? Anerkennung für eine besondere Leistung? Es ist das Gefühl: Ich bin wer und ich kann was. Ein Gefühl, das auch Nieder­lagen verkraftet – ja sogar durch sie gestärkt wird. Denn Nieder­lagen zwingen dazu, mich zu behaupten. Auch nach Abstürzen. Sich berappeln, aufstehen, wieder anfangen. Wir sind unvoll­kommen. Wir irren uns und machen Fehler. Unser Wissen ist beschränkt. Es ist Blödsinn, das zu leugnen, klein zu reden oder umzuin­ter­pre­tieren. Wir müssen das akzep­tieren, lernfähig bleiben und die Chancen der Selbst­ver­bes­serung nutzen. So gewinnt man Selbstbewusstsein.

Ich muss verin­ner­lichen: In all meiner Unvoll­kom­menheit und auch als Verlierer bin ich kein Nichts, sondern habe ich einen Wert als Mensch. Deshalb kann ich immer wieder auf die Beine kommen. Dieses Wertgefühl gewinne ich als Kind aus der Liebe meiner Eltern, aus der Zuneigung meiner Bezugs­per­sonen. Lob und Tadel geben mir Orien­tierung. Als Jugend­licher messe ich zunehmend der Anerkennung und Zuneigung, Missachtung und Feind­se­ligkeit meiner Alters­ge­nossen Bedeutung bei. Ich lerne, mich in eine Gruppe einzufügen.

Aus dem Gefühl der Zugehö­rigkeit gewinnen wir als Jugend­liche Selbst­ver­trauen. Wir ordnen uns ein, finden unsere Rolle, übernehmen das von uns erwartete Verhalten. Dieselben Idole, die gleichen Klamotten, die gleiche Sprache. Neben den Konflikten mit Eltern und Geschwistern lernen wir in der Gruppe von Gleich­al­te­rigen, uns zu behaupten und Ausein­an­der­set­zungen nicht zu scheuen – sonst würden wir in den Status eines Mitläufers geraten. Das passiert, wenn wir aus dem elter­lichen Milieu keine stabile Werte­ori­en­tierung mitbe­kommen haben.

Selbst­be­wusstsein aufgrund von Werte­ori­en­tierung: Haben wir einen eigenen Stand­punkt oder passen wir uns der jewei­ligen Mehrheits­meinung an? Verlassen wir gegebe­nen­falls die Gruppe, um unseren Werten treu zu bleiben oder schmeißen wir sie über Bord? Werte: Sind wir ehrlich? Respek­tieren wir das Eigentum anderer? Reden wir schlecht über andere? Achten wir die eigene Unver­sehrtheit und die der anderen? Können wir Fehler einsehen und uns entschul­digen? Sind wir nachtragend? Verzeihen wir? Sind wir zu Opfern bereit, um die Gruppe zu erhalten? Selbst­be­wusstsein spiegelt sich in Verhaltensweisen.

Gruppen­zu­ge­hö­rigkeit zwingt zur Entwicklung von kommu­ni­ka­tiven Fähig­keiten, von Normvor­stel­lungen im Umgang mit anderen und von wirklich­keits­naher Wahrnehmung der Situa­tionen und Vorgänge. Jugend­liche, die sich als Einzel­gänger dem entziehen und sich in eine virtuelle Welt flüchten, versäumen eine wichtige Phase ihrer Entwicklung.

Welchen Sinn gebe ich meinem Leben?

Viele der nachwach­senden Generation laufen voller Elan als junge Erwachsene zu Höchstform auf: Die ganze Welt verändern, den Altvor­deren das Heft aus der Hand nehmen und Zukunft nach eigenen Vorstel­lungen schaffen. Aber es gibt auch das andere Extrem: sich im Hotel Mama einrichten, statt sich etwas zuzutrauen und Eigen­stän­digkeit zu entwi­ckeln, bei jeder Gelegenheit staat­liche Fürsorge verlangen. Um in dieser Zeit die Balance nicht zu verlieren, um sich einer­seits nicht zu überschätzen und anderer­seits nicht in Minder­wer­tig­keits­kom­plexen zu versinken, um selbst­kri­tisch auf dem Teppich zu bleiben, muss man sich hartnäckig befragen:

  • Fühle ich mich stark und lebenstüchtig?
  • In welchen Situa­tionen fühle ich mich unsicher?
  • Welchen Sinn gebe ich meinem Leben?
  • Worauf gründet sich mein Selbstvertrauen?
  • Wie schätze ich die Zukunft ein?
  • Was will ich in meinem Leben erreichen?
  • Was ist die Aufgabe meiner Generation?

Um Anhalts­punkte zu diesen Fragen zu finden, ein Vorschlag: Die Personen des bishe­rigen Lebens­um­felds einer näheren Betrachtung unter­ziehen. Ohne Emotionen! Mit dem Anspruch, ihnen möglichst gerecht zu werden, die positiv erfah­renen Seiten genauso zu sehen wie die negativen. Wofür bin ich dankbar? Was war gut gemeint, aber daneben? Was belastet mich?

Und dann eine Betrachtung unabhängig von mir selbst: Worauf sind mein Vater, meine Mutter, meine Geschwister, Großeltern, Onkel und Tanten stolz? Wie spiegelt sich das in ihrem Selbst­be­wusstsein wider? Anschließend: Worauf sind meine Freunde, Mitschüler, Sports­ka­me­raden stolz? Was trauen die sich zu? Wann sind die schwach und ängstlich? Danach: Was sind ihre Handlungs­motive? Warum tun die was? Wie reden die? Warum reden die so, wie sie reden? Was steckt dahinter? Große Klappe? Oder Substanz? Beispiel: Gibt es einen „Kleinen“, der sein empfun­denes Handicap dadurch wett machen will, dass er sich immer und überall in den Vorder­grund schiebt?

Wie sehen mich meine Mitmenschen?

Weitere Fragen: Wer hat richtig was drauf, kommt damit aber nicht raus, weil er sich nichts zutraut? Wer will immer bei der Mehrheit sein? Alle diese Fragen und weitere, die einem kommen, durch­nehmen. Am besten schriftlich durch­ar­beiten. Und dann auf sich selber anwenden, sich selbst betrachten und in dieses Personen-Tableau einordnen. Ja, diese Fragerei ist ätzend. Aber die Alter­native ist: Einfach drauf los leben, sich ausleben und riskieren, dass man irgendwo auskommt, wo man sich unwohl fühlt, schwer wieder rauskommt, hängen bleibt, sich vom Pech verfolgt fühlt, die Ursachen nicht bei sich selbst sucht, geschweige denn mit Verän­de­rungen bei sich selbst anfängt – gute Vorsätze, das war’s.

Eine Übung, die zur Selbst­findung hilfreich ist: Alle Personen-Kennzeich­nungen, die unsere Sprache bietet, auflisten. Also: echter Freund, dufter Kumpel, guter Zuhörer, Sponti, Schleimer, Klugschwätzer, Haarspalter, Überflieger, Lebens­künstler, Fachidiot, Drauf­gänger, verläss­licher Partner, ein Fass von Wissen, guter Beobachter, Angeber, Streit­hansel und so weiter. Es gibt eine Fülle von Wörtern und Redewen­dungen, mit denen Menschen gekenn­zeichnet werden, wie sie von anderen wahrge­nommen werden. Das kann falsch und verleum­de­risch sein. Es ist zu Wirklichkeit gewordene Subjek­ti­vität, die durch Kommu­ni­kation entsteht, und von starkem Einfluss ist; insbe­sondere wenn die sozialen Medien sie in die Welt setzen und verstärken.

Die Aufgabe: Die zuvor erfassten Personen unseres bishe­rigen Lebens­um­felds den Kennzeich­nungen unserer Liste zuordnen. Wie werden die Personen von ihrem Umfeld gesehen? Anschließend bei jeder Person vermerken, ob wir diese Beurteilung für zutreffend halten oder nicht, ob ich damit überein­stimme oder anderer Meinung bin. Beispiel: Meine Mutter hält meinen Vater für einen Feigling; das stimmt nicht, mein Vater braucht nur länger, um zu einer Entscheidung zu kommen.

Der krönende Abschluss dieser Arbeit: Die Liste auf sich selbst anwenden! Wie sehen mich die Menschen meines Lebens­um­feldes? Als liebens­werten Zeitge­nossen? Als Spaßvogel? Als Querdenker? Als Vorturner? Als Chaot? Und so weiter. Vorletzte Frage: Sehe ich mich auch so? Oder trifft das alles nicht oder höchstens teilweise zu? Letzte Frage: Warum werde ich so gesehen?

Wie nehme ich mich selbst wahr?

Die Wertschätzung anderer Menschen bestimmt weitgehend unser Selbst­be­wusstsein. Wir sollten versuchen, nicht davon abhängig zu sein. Und anderer­seits sollten wir uns auch nicht aufs hohe Ross setzen und sagen, was die Leute über mich reden, ist mir egal; ich weiß selbst, was ich mir wert bin. Jeder will anerkannt werden; möglichst beliebt sein. Lobende Worte vom Chef, vom Ausbilder oder Professor tun gut. Freunde, die einen annehmen, wie man ist, tun gut. Die Honorierung erbrachter Leistungen tut gut. Dieses „gut tun“ geht zu weit, wenn man davon abhängig ist, süchtig danach ist, ohne es unglücklich ist. Denn dann ist man manipulierbar!

In der Wahrnehmung meines Umfelds ist es wichtig mitzu­be­kommen, was man über mich denkt. Aber nicht, weil davon mein Wohlbe­finden abhängt, sondern weil es mir Infor­ma­tionen gibt, die ich für die Selbst­findung und ‑beurteilung brauche, um meine Selbst­wahr­nehmung mit der Fremd­wahr­nehmung vergleichen zu können. Da wird es zwar immer eine Diskrepanz geben, aber wenn diese zu groß ist oder gar wider­sprüchlich, stimmt etwas nicht mit meinem Selbst­be­wusstsein. Mehr Schein als Sein? Oder zu unscheinbar, um richtig erkannt zu werden? Vermag ich nicht zu kommu­ni­zieren, was ich bin?

Es gibt Lebens­si­tua­tionen, in denen deutlich wird, ob man fremd­ge­steuert lebt oder ein Selbst­be­wusstsein hat, das eigen­ständig ist. Beispiel: Ich habe den Job verloren. Schäme ich mich und trage den Kopf unter dem Arm oder gehe ich auf meine Freunde zu und bitte sie, mir bei der Jobsuche zu helfen? Anderes Beispiel: Ich erreiche die Alters­grenze und scheide als Topma­nager aus der Firma aus. Ziehe ich mich zurück und leide darunter, jetzt nur noch Privatmann ohne Status­symbole zu sein und nicht mehr gebraucht zu werden, obwohl ich mich noch topfit fühle? Oder habe ich ein Projekt, in dem ich mich ehren­amtlich engagiere, mein Wissen und meine Erfah­rungen einbringe?

Es gibt leuch­tende Beispiele für einen gelun­genen „Szenen­wechsel“: dem Nachwuchs Hilfe­stellung geben, nach erfolg­reicher Karriere sich in den Dienst einer guten Sache stellen, Sozial­dienste leisten, Forschung fördern, in Kunst und Kultur eine Aufgabe übernehmen, eine Stiftung gründen. All das zeigt ein Selbst­wert­gefühl, aus dem heraus sich Menschen nützlich zu machen verstehen.

Zu einem „erwach­senen“ Selbst­be­wusstsein kommt, wer sich aus den Probe­phasen seiner Jugend löst, das „geliehene“ Selbst­be­wusstsein der Gruppe hinter sich lässt und zu persön­licher Souve­rä­nität findet. Das ist ein unent­wegter Balan­ceakt, den man nicht im Stehen vollbringen kann, sondern nur in der ständigen Vorwärts­be­wegung seines Lebens. Aktiv sein! Etwas unternehmen!

Wir sind so großartig begabt!

Und wie stelle ich es an, ein eigen­stän­diges Selbst­be­wusstsein zu entwi­ckeln? Erstens durch perma­nentes Reflek­tieren als Ausdruck bewussten Lebens. Zweitens durch Akzep­tieren meiner lebens­langen Unvoll­kom­menheit. Drittens durch einen Umgang mit meinen Gefühlen, der mich immer wieder auf die Freuden des Lebens hin lenkt.

Reflek­tieren: Immer wieder neu und vertieft nachdenken und schreiben über die Grund­fragen meiner Existenz. Wo komme ich her? Wo will ich hin? Wer bin ich? Was will ich hier auf dieser Welt tun? Welche Mittel habe ich dazu? Welche davon sind mir unabän­derlich vorge­geben? Welche kann ich beeinflussen?

Wer sich vor dem Nachdenken über diese Fragen drückt, dem werden andere Menschen nach ihren Vorstel­lungen sagen, wo es lang geht. Man hat sich der Fremd­be­stimmung ausge­liefert. Manchen passt das nicht, aber sie tun auch nichts, weil sie feige, unfähig und faul sind. Sie meckern, sie beschimpfen und verur­teilen, machen miese Stimmung. Es sind die unbelehr­baren Schwächlinge.

Nachdenken verlangt: aus der Spur treten, inne halten, still werden, in sich hinein hören, sein Denken, Reden und Handeln bedenken, sein Verhältnis zu den Mitmen­schen überdenken – und sich Fragen stellen!

Unvoll­kom­menheit: Auch wenn wir gerne vollkommen wären und es immer wieder unsere Versu­chung ist – wir sind nicht der Vollkommene, der Allwis­sende, der Allmächtige, der Allge­gen­wärtige, der Zeitlose, nicht der absolut Gerechte, der unein­ge­schränkt Liebe­volle … Nein, wir sind unvoll­ständig. Das ist der Ansporn unseres Lebens! Sein Wissen unablässig ausweiten, neue Einsichten gewinnen, Erfah­rungen sammeln, Lehren ziehen, sich korri­gieren, sich verbessern, Zusam­men­hänge erkennen, bis ins letzte Detail diffe­ren­zieren, in Alter­na­tiven denken, seine Sinne schärfen, genau hinsehen und hinhören …

Wir sind so großartig begabt! Es macht so unendlich viel Spaß, seine Talente zu nutzen! Das mag zumindest am Anfang oder bei einem Neubeginn Selbst­über­windung erfordern – aber der Lohn ist überwäl­tigend! Wie der grandiose Ausblick nach einer anstren­genden Gipfeltour oder das Glücks­gefühl nach einem Marathonlauf.

Charakter schenkt Freiheit

Gefühle: Wer sich ihnen unein­ge­schränkt überlässt, verliert seine Freiheit. Und degra­diert seinen Verstand zu ihrem Büttel, der immer neue Begrün­dungen und Ausreden zu liefern hat. Ohne Charak­ter­fes­tigkeit kommt man mit seinen Gefühlen nicht klar, werden sie zur Gefahr, kann man sie als Liebe und Freude nicht ausleben.

Mein Charakter bestimmt den Umgang mit mir selbst und mit meinen Mitmen­schen. Bin ich ehrlich zu mir? Und zu anderen? Gehe ich pfleglich mit meinen Sachen um? Und mit denen der anderen? Bin ich zuver­lässig? Kann ich mich auf mich verlassen? Kann ich verzichten? Bin ich verführbar? Kann ich Fehler einge­stehen? Halte ich mein Wort? Kann ich mich zügeln? Bin ich so selbst­sicher, dass ich mich ausleben kann?

Wer die wandelnde Selbst­kon­trolle ist, hat Charakter falsch verstanden. Mein Charakter, der wie alle meine anderen Lebens­äu­ße­rungen der ständigen Selbst­ver­bes­serung bedarf, gibt mir Verhal­tens­si­cherheit, ohne dass ich in jeder Situation nachdenken müsste; er schenkt mir die Freiheit, spontan sein zu können; er hilft mir, die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild zu verringern; eröffnet mir die Freuden des Lebens!

Die Freiheit, die mir mein Charakter schenkt, gilt es zu nutzen: mich und meine Mitmen­schen immer wieder auf das zu orien­tieren, was das Leben in dieser Welt lebenswert macht. Das heißt: Die Aufmerk­samkeit auf Menschen lenken, die Frieden stiften, die Leben retten, die andere trösten, die Liebe schenken, die Not lindern, die Werte schaffen, die Konflikte lösen, die Lob und Anerkennung zollen, die Gastfreund­schaft gewähren, die uns mit Werken der Musik und Malerei begeistern, … Natur entdecken, in ihr aufgehen.

Um diese Orien­tierung dominant werden zu lassen, müssen wir den Blick wegnehmen von dem, was uns runter­zieht, die Laune verdirbt und zu Miese­petern macht. Dem Bösen und Fahrläs­sigen darf man nicht mehr Aufmerk­samkeit schenken, als notwendig ist, um es in Schach zu halten. Das beginnt bei uns selbst: dem inneren Schwei­nehund nicht das Feld überlassen, über den eigenen Schatten springen.

Unsere Sehnsüchte geben uns Vorstel­lungen von absoluter Gerech­tigkeit, von grenzen­loser Freiheit, von unein­ge­schränktem Wissen, von unzer­brech­lichem Frieden, von totaler Liebe. Diese, unsere sehnsuchts­vollen Vorstel­lungen von Vollkom­menheit haben einen Namen: Gott. Ihm entgegen zu leben – gemäß dem Glauben, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, sondern es erst richtig los geht –, das gibt Hoffnung. Daran kann sich unser Selbst­be­wusstsein voller Freude festmachen.

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