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Coachinggespräch

… was ich an deiner Stelle täte … nur nicht sich selbst verändern … 
als Einzelkämpfer … wie ein Heinzelmännchen

Am Abend fuhr Hirschberg zurück nach Mehlem. Denn am nächsten Tag war der Termin mit Neffe Joachim. Wie immer fragte Hirschberg zuerst danach, wie er die Ergeb­nisse des letzten Gesprächs umgesetzt habe. Schon bald war trotz wortreicher Erklä­rungen deutlich, es hatte sich nichts getan. Der junge Mann hatte zwar beim letzten Mal alles einge­sehen und die in der Sitzung gemeinsam erarbei­teten Lösungen aufge­schrieben, aber er verstand es nicht, Taten folgen zu lassen.

Bis jetzt war Hirschberg davon ausge­gangen, dass es sich um Anfangs­schwie­rig­keiten handele und erst einmal so etwas wie ein Handlungsstau entstehen müsse, um loszu­legen. Doch nun merkte er, hier lagen grund­sätz­liche Schwie­rig­keiten vor, Joachim war der Sache nicht gewachsen. Er war ein guter Fachmann, aber ihm fehlte die Fähigkeit, mit Mitar­beitern umzugehen. Während Joachim noch erzählte, hörte Hirschberg nur noch mit einem Ohr zu, da er überlegte, wie er jetzt verfahren sollte.

Der Jungun­ter­nehmer beendete seinen Bericht mit dem Vorschlag, der Onkel möge doch mal ins Unter­nehmen kommen, um mit den Leuten zu reden. Der lehnte jedoch katego­risch ab und erläu­terte: „Es handelt sich um dein Unter­nehmen, du musst mit den Leuten klar kommen, du musst ihnen sagen, wie du dir die Zusam­men­arbeit vorstellst, von dir müssen die Mitar­beiter erfahren, was du von ihnen erwartest. Ich kann das nicht für dich tun.“

Der Junge machte noch einen Versuch: „Kannst du denn nicht wenigstens zu einer Betriebs­ver­sammlung kommen?“

„Nein. Auch das würde dir nicht helfen. Denn das Problem liegt in erster Linie bei dir, nicht bei deinen Mitarbeitern.“

Wieder Pause. Hirschberg überlegte, was er tun würde, wenn er zu der Erkenntnis käme, grund­sätz­liche Probleme mit seinen Mitar­beitern zu haben. „Was ich dir jetzt sage, ist kein Ratschlag. Ich kann dir nur sagen, was ich an deiner Stelle täte. Entscheiden, was du tust, kannst nur du selbst. Denn du musst auch die Folgen tragen. Ich an deiner Stelle würde das Unter­nehmen verkaufen.“

Joachim fiel das Kinn runter; er sah den Onkel verständ­nislos an: „Das Unter­nehmen aufgeben?“

„Genau das. – Ich sage dir, warum ich das an deiner Stelle machen würde. Meine erste Überlegung wäre, was kann ich gut, was weniger gut. Ich würde feststellen: In allen Bereichen, in denen es um die Sache, um die Produkte des Unter­nehmens geht, bin ich der beste in der Firma. Deshalb habe ich ja auch das Unter­nehmen gegründet. Aber ich müsste mir weiter sagen, zur Beschäf­tigung mit den Produkten komme ich gar nicht mehr, das machen jetzt meine Mitar­beiter. Ich muss nur noch dafür sorgen, dass die ausge­lastet sind, genügend Aufträge da sind; und dann muss ich dahinter her sein, dass die Aufträge zur Zufrie­denheit der Kunden ausge­führt werden. Um das alles zu bewäl­tigen, brauche ich aber weniger Sachkennt­nisse, sondern vor allem Managementfähigkeiten.“

Er fuhr fort: „Ich müsste mir sogar einge­stehen, meine Sachkenntnis wäre in gewisser Weise hinderlich bei der Führung des Unter­nehmens. Denn sie verleitet mich dazu, meine Mitar­beiter ständig zu bevor­munden, ihnen zu sagen, wie es besser geht. Das wiederum verleitet meine Mitar­beiter dazu, nichts zu tun, ohne mich vorher zu fragen. Alles bleibt an mir hängen. Wenn ich mich nicht um jede Angele­genheit selber kümmere, passiert nichts. Meine Sachkennt­nisse kommen mir zugute bei den Kunden. Ich kann ihre Fragen kompetent beant­worten. Aber manchmal erkläre ich viel zu ausführlich. Manche Kunden haben das schon ausge­nutzt, indem sie – von mir schlau gemacht – zur Konkurrenz gingen, um ein billi­geres Angebot zu bekommen. Und außerdem kann ich nicht gut verhandeln.“

Hirschberg sah Joachim an. Der schwieg, war in sich gekehrt. Hirschberg: „Soweit meine selbst­kri­tische Analyse. Die Frage, die sich daraus ergibt: Wie kann ich das, was ich kann, wieder mehr zu meiner Arbeit machen, damit ich wieder Freude daran finde und nicht das Gefühl habe, sowohl von den Kunden als auch von den Mitar­beitern ausge­nutzt zu werden? Unter den Bedin­gungen der jetzigen Firma ginge das nicht, müsste ich mir sagen. Also gebe ich sie auf.“

Joachim: „Und was dann?“

Hirschberg: „Um diese Frage zu beant­worten, würde ich mir das Folgende überlegen: Was ist denn mein eigent­liches Kapital? Doch nicht das bisschen Eigen­ka­pital und die Bankkredite. Mein Kapital sind Kunden, die ich aufgrund meines fachlichen Könnens gewonnen habe. Wie kann ich das nutzen?“

Joachim sah vor sich hin. Schließlich sagte er leise und weiterhin in sich gekehrt: „Du meinst also, zum Unter­nehmer eigne ich mich nicht!“

„Das ist damit nicht gesagt. Nur so, wie du dein Geschäft betreibst, wird das immer ein Hängen und Würgen sein. Du bist doch gar nicht flexibel. Angenommen, es kommt zu einer Durst­strecke, weil aus irgend­einem Grund, beispiels­weise wegen techni­scher Neuerungen oder wegen Billig­an­ge­boten aus irgend­einer Ecke der Welt, die Aufträge weniger werden oder eine Zeitlang ganz ausfallen – wie willst du das mit deiner heutigen Organi­sation auffangen? Du bist doch pleite mit allen üblen Folgen für dich und deine Familie, ehe du auch nur richtig reali­siert hast, was da abgeht.“

„Du machst mir Angst.“

„Wovor du die Augen zumachst, das sollte dir Angst machen. Ich will und kann nicht für dich entscheiden. Aber ich will dir die Augen öffnen. Es gibt für jeden, verein­facht gesagt, drei Möglich­keiten, künftig in gesichertem Wohlstand zu leben: Entweder man geht zum Staat und macht eine Beamten­kar­riere oder man geht zu einem Konzern oder man setzt sich als Einzel­kämpfer auf eigene Faust durch.“

„So wie du!“

„Aber dazu musst du fit sein, und genügsam wie ein Kamel – lange Strecken ohne Wasser. Mal kommen mehr Aufträge, als du allein bewäl­tigen kannst, mal gar keine. Und ohne Glück geht es auch nicht. Das wichtigste aber ist: Du musst ständig an dir arbeiten, dich verbessern, Zeit in deine Fortbildung inves­tieren. Anders geht das nicht.“

„Ich habe Frau und zwei Kinder. Wie soll ich das denn machen? Außerdem würde Margret es nicht verstehen, wenn ich die Firma aufgebe, nachdem ich so viel Zeit und Kraft inves­tiert habe. Meine Mutter würde mich für verrückt erklären.“

„Und mich würde sie zum Schul­digen erklären. Aber ich rate es dir nicht. Du musst tun, was du für richtig hältst. Was ich täte, kann für dich nicht maßgebend sein.“

Hirschberg wusste: Joachim wollte nicht; vielleicht konnte er auch nicht, weil die beiden genannten Frauen zu viel Einfluss auf ihn hatten.

Er sagte: „Überlege es dir, und tu, was du für richtig hältst. Wenn du weiterhin mit mir deine Probleme in der Firma besprechen willst – ich stehe dir zur Verfügung.“

Joachim: „Vielleicht machen wir jetzt erst einmal eine Pause.“

Hirschberg fragte noch nach Joachims Kindern. Und um in ein anderes Fahrwasser zu kommen, erzählte er, wie das früher im Urlaub mit seiner Schwester, also Joachims Mutter und deren Kindern, also Joachim und seinen Geschwistern lief, wo Hirschberg öfter den Vater vertrat, der im Unter­nehmen nicht wegkam. Dann verab­schiedete er den Neffen. Seine Hoffnung war, dass er nicht eines Tages mit den geäußerten Befürch­tungen Recht hätte.

Warum sind Menschen nur so verän­de­rungs­un­willig? Warum wollen sie nicht von ihrem einmal einge­schla­genen Weg runter? Diese Fragen bedrängten Hirschberg, nachdem er Joachim nachge­winkt hatte und wieder ins Haus gegangen war. Warum wollten die meisten Menschen lieber die ganze Welt nur nicht sich selbst verändern? Er legte sich aufs Sofa im Wohnzimmer und geriet ins Grübeln.

Seine Gedanken schweiften weiter ab. Ihm fiel der griechische Hotelier in Lutraki am Golf von Korinth ein, bei dem er auf seiner Griechen­land­reise logiert hatte. Der bot nichts als Zimmer mit Bett an, stilvoll einge­richtet, jeden Tag frische Wäsche. Morgens verab­schiedete er seine Gäste, vom späten Nachmittag an empfing er sie wieder. Er war immer tipptopp gekleidet. Der Scheitel auf der linken Seite seiner pechschwarzen Haarpracht war wie mit dem Lineal gezogen. Die Freund­lichkeit in Person. Er nahm die Zimmer­schlüssel entgegen, verwahrte Gegen­stände, händigte sie wieder aus, beant­wortete Fragen in gepflegtem Englisch. Er machte den Eindruck, nichts anderes als den perfekten Empfangschef zu spielen.

Nach ein paar Tagen im Hotel fiel Hirschberg auf, dass weder Zimmer­mädchen noch sonst irgendein Personal zu sehen war. Einmal kam er tagsüber zurück, weil er ein Souvenir auf sein Zimmer bringen wollte. Der Hotelier war nicht da. Hirschberg nahm seinen Schlüssel vom Bord und ging auf sein Zimmer. Das Bett war wieder neu bezogen, alles penibel sauber gemacht und in Ordnung gebracht. Zurück am Empfang hielt er nach dem Hotelier Ausschau, weil er noch eine Auskunft haben wollte. Er sah überall nach, auch im Garten.

Zuletzt stieg er die Treppe hinunter ins Souterrain, machte eine Tür auf – und stand im Dampf der Wasch­küche, vor ihm sein Hotelier in Arbeitshose, offenem Hemd mit hochge­krem­pelten Ärmeln, verschwitzten und sträh­nigen Haaren, rot im Gesicht. Wie ertappt sah der Mann Hirschberg an und wies ihn barsch zur Tür raus, noch bevor dieser seine Frage stellen konnte. Der Hotelier machte also die ganze Arbeit allein, wie ein Heinzel­männchen. Am Nachmittag stand er wieder geschniegelt und gestriegelt am Empfang.

Die Menschen haben von Natur aus die Neigung, vollkommen sein zu wollen. Die einen hielten das mehr oder weniger für gegeben, gefielen sich so, wie sie sich sahen, waren selbst­ver­liebt und lehnten es ab, sich zu verbessern. Andere erlebten ihre Unvoll­kom­menheit als Schmach, wollten das aber vor den übrigen Menschen verbergen. Also taten sie wie der Hotelier in aller Heimlichkeit, was sie als unwürdig empfanden. Wieder andere bemühten sich mit ungeheurem intel­lek­tu­ellen Aufwand, der Unzuläng­lich­keiten ihres Lebens Herr zu werden. Das traf auf Hannelore zu. Nur wenige verstanden es, mensch­liche Unvoll­kom­menheit offen und ehrlich anzunehmen, sich aber dennoch nicht mit ihr abzufinden.

Politik und Politiker

… wuchtige große Gestalt … polemisieren konnte er selber … keine Harmonie-
Vereine … für seine Ideen kämpfen … die mediale Inszenierung …

Hirschberg freute sich auf das Treffen mit Freund Werner. Der Mann war eine Heraus­for­derung, ein Erlebnis. Ein Unter­nehmer, wie ihn jede Gesell­schaft braucht, wenn zugunsten des Allge­mein­wohls etwas bewegt werden soll. Er nannte ihn „Freund Werner“, nicht weil er ein Freund im eigent­lichen Sinn war, sondern weil er sich gern als Freund ausgab; beispiels­weise: „Wenn ich Ihnen als Freund etwas sagen darf …“.

Politiker! ‘Die’ Politiker. Hirschberg hatte viele aus der Nähe beobachten können, manche auch kennen­ge­lernt. Sie alle in einen Topf werfen und dann über sie schimpfen, war Blödsinn. Aber man musste wohl feststellen, dass es viel zu viele von ihnen gab: auf kommu­naler Ebene, auf Zwischen­ebenen, auf Länder- und Bundes­ebene. Und obendrauf kam noch die Europäische Union. Die Folge dieser Überbe­setzung: Eine Überpro­duktion von Gesetzen, Geset­zes­no­vellen, Erlassen, Vorschriften. Eine Heerschar von Beamten. Zwischen den Ebenen gab es keine klaren Trennungs­linien. Man stritt um Kompe­tenzen, also Macht, und das dazuge­hörige Geld. Von der Anwendung des Subsi­dia­ri­täts­prinzips konnte keine Rede sein. Man stand sich gegen­seitig auf den Füßen. Wie in der Küche: Zu viele Köche verderben den Brei.

Was für ein Politiker war Freund Werner? Hirschberg war ihm anfangs sehr skeptisch begegnet. Leuten, die sich wie er als Freund ausgaben, misstraute er. Anderer­seits hatte er ein so gewin­nendes Wesen, dass es schwer fiel, ihn nicht zu mögen. Materielle Motive konnten ihn nicht bewogen haben, in die Politik zu gehen. Er gehörte zu den wenigen Abgeord­neten, für die man die Diäten und andere Zuwen­dungen und Ansprüche hätte abschaffen können. Vielleicht sollte er ihn einfach mal fragen, warum er Mitglied des Bundestags – über die Landes­liste seiner Partei – geworden sei.

Hirschberg war pünktlich im Redüttchen, wo er mit Freund Werner verab­redet war. Wie er erwartet hatte, war er der erste. Aber Freund Werner hatte einen Tisch im oberen Stockwerk reser­vieren lassen. Ob er schon etwas trinken wolle, fragte ihn der Ober, der ihn zum Tisch geleitet hatte. Er warte noch ein wenig, erwiderte Hirschberg. Nach ein paar Minuten kam der Ober erneut an den Tisch. Die Sekre­tärin von Herrn Dr. Boone habe gerade angerufen, Herr Dr. Boone komme etwas später und bitte um Verständnis. Auch das kannte Hirschberg zur Genüge. So ein ‘etwas’ konnte lange dauern. Diesmal dauerte es nicht lange. Freund Werners laute sonore Stimme war schon unten im Lokal zu hören, als er den Ober nach dem Tisch fragte. Die Holztreppe knarrte unter seinem Überge­wicht. Eine wuchtige große Gestalt füllte den Gastraum.

Sobald Boone Hirschberg erblickte, der sich erhoben hatte, rief er, noch im Zugehen die Hand ausstre­ckend: „Wie geht es Ihnen, mein Freund. Lange nicht mehr gesehen!“ Die anderen Gäste unter­brachen ihre Gespräche oder ihre Zeitungs­lektüre und blickten zu den beiden rüber. Kein Zweifel, hier hatte eine selbst­be­wusste Persön­lichkeit den Raum betreten. Hirschberg war diese Aufmerk­samkeit eher peinlich, Freund Werner schien sie selbst­ver­ständlich nach dem Motto ‘Hoppla, jetzt komme ich’. Er zwängte sich hinter den Tisch auf die Sitzbank.

Zu Hirschberg: „Sie sind ja noch dünner geworden. Haben Sie gesund­heit­liche Probleme? Ich kann Ihnen ein paar Kilo abgeben.“

Neben dem Tisch stand dienst­bereit der Ober. Boone zu ihm: „Was haben Sie denn heute Leckeres anzubieten?“ Der Ober referierte. Freund Werner zu Hirschberg: „Ich darf Sie einladen?“ Hirschberg artig: „Danke schön.“ Es wurde gewählt. Ober: „Was möchten Sie dazu trinken?“ „Haben Sie einen schönen trockenen Riesling von der Mosel?“ „Wir haben…“ der Ober bot mit ein paar beschrei­benden Worten an. Freund Werner entschied für sich. Zu Hirschberg: „Sie auch?“ Der wollte Indivi­dua­lität zeigen, nachdem er schon das gleiche Menü gewählt hatte: „Haben Sie auch einen Kaiser­stühler?“ Der Ober nannte drei Sorten. Eine war dabei, die Hirschberg kannte.

Der Ober war schon im Abgang, als Freund Werner ihn nochmal zurückrief: „Vorab, jetzt bitte gleich, einen Aquavit, welchen haben Sie?“ — „Nein, haben Sie nicht den …?“ Der Ober half ihm. „Genau, bringen Sie mir den!“ Zu Hirschberg: „Für Sie auch einen?“ „Nein, danke.“ „Sie müssen anschließend autofahren! Ja, dann lieber nicht.“

Er lehnte sich zurück, zog die Krawatte gerade, legte seine Hände auf dem Bauch zusammen und sah Hirschberg mit seinen hellen blauen Augen an. Als der schwieg: „Sie glauben ja gar nicht, was bei uns in der Partei derzeit los ist. Jeder hat ein anderes Rezept, wie wir wieder nach oben kommen. Keine Disziplin. Das reinste Chaos. Wir lassen das noch etwas laufen, bis es den Kameraden selbst zu bunt wird, dann werden wir, der Vorstand – Sie wissen, dass ich da gerade rein gewählt worden bin? – dann werden wir die Zügel langsam anziehen.“

Hirschberg wusste, jetzt müsse auch er langsam auf die Bühne, sonst gab das eine Ein-Personen-Schau. Und er wollte Selbst­be­hauptung zeigen, indem er das Thema vorgab. Also fragte er: „Und wie geht’s im Unternehmen?“

„Ach ja, soll ich klagen? Wir sind nicht ganz ausge­lastet. Aber im Vergleich zur Konkurrenz geht es uns noch ganz gut. Wir haben jetzt ein paar neue Produkte entwi­ckelt. Wenn die einschlagen, sind wir fürs erste wieder über den Berg.“

„Können Sie sich denn neben der Politik genügend um Ihr Unter­nehmen kümmern?“

„Zum Glück habe ich neben mir einen tüchtigen Geschäfts­führer. Anders ginge das gar nicht.“ Das Essen wurde serviert.

„Und die übrige Mannschaft zieht auch mit?“

„Ja, alles hochmo­ti­vierte Leute. Die sind alle stolz darauf, bei mir zu arbeiten. Auch wenn sie nicht meine Partei wählen.“ Er lachte.

„Und Ihr Betriebsrat schießt nicht quer?“

„Ich habe keinen! Als die letzten Betriebs­rats­wahlen propa­giert wurden, habe ich denen gesagt, ich hielte mich da raus. Wenn sie einen Betriebsrat wählen wollten, sollten sie das tun. Nach einer Weile kamen sie und meinten, an einem Betriebsrat bestünde kein Interesse. In einem Konzern sei das sicher angebracht, aber bei unseren 120 Leuten – was bringe das denn schon. Die Gewerk­schaften haben dann versucht, ein paar Leute, die von ihren früheren Beschäf­ti­gungen her noch Mitglieder sind, zu beein­flussen, aber ohne Erfolg. Ich hätte mit einem Betriebsrat keine Probleme.“

Hirschberg dachte: Der Patriarch hatte wahrscheinlich im Laufe der Jahre eine ganz auf ihn bezogene Perso­nal­po­litik betrieben, jede Aufmüp­figkeit umgebogen oder unter­bunden. Die Beleg­schaft war vermutlich eine Art Fanclub des Chefs. Auch solche Betriebe hatte er schon kennen­ge­lernt. Sie hatten tüchtige und engagierte Mitar­beiter. Der Chef wusste sie mit seiner Intel­ligenz, Menschen­kenntnis und Charak­ter­fes­tigkeit für sich einzu­nehmen. Er konnte seine Leute zu vollem Einsatz motivieren. Freund Werner hatte zudem offenbar noch einen Statt­halter, der ihm seinen Einsatz in der Politik ermöglichte.

„Haben sich die neuen Verhält­nisse in Berlin schon einge­spielt?“, fragte er den Volksvertreter.

„Parlament und so? Da ist noch vieles gewöh­nungs­be­dürftig. Jetzt merkt man erst so richtig, wie sich hier in Bonn über die Jahre doch alles sehr vorteilhaft und zeitsparend einge­richtet hatte. Mit viel Aufwand ist in Berlin ein neuer Anfang gemacht worden. In ein paar Jahren ist das wohl alles recht funkti­ons­tüchtig. Diese Aufteilung zwischen Bonn und Berlin finde ich aller­dings blödsinnig. Entweder oder. Eine der typischen Kompro­miss­ent­schei­dungen. Regie­rungs­mit­glieder, die ihren Apparat in Bonn sitzen haben, müssen dauernd hin und her fliegen. Viele Beamte haben ihren Wohnsitz hier in Bonn behalten. Für viele von ihnen, die kurz vor der Pensio­nierung stehen, würde ein Umzug ja auch keinen Sinn machen.“

Freund Werner erkun­digte sich nach Hirsch­bergs derzei­tigen Aufträgen. Der berichtete und ließ einige kritische Bemer­kungen zur Wirtschafts­po­litik einfließen. Daraufhin fragte er Hirschberg: „Und wie könnte Ihrer Meinung nach ein überzeu­gendes Konzept für meine Partei aussehen?“

Hirschberg trug seine Theorie der dreipo­ligen Gesell­schaft ‘Individuum, Unter­nehmen, Staat’ vor. Freund Werner unter­brach ihn nur, wenn er sicher gehen wollte, richtig verstanden zu haben. Zum Schluss jedoch ließ sich Hirschberg hinreißen, mehr die gängige Politik zu geißeln, als die Ansatz­punkte der von ihm gedachten alter­na­tiven Politik aufzu­zeigen. Alle bekamen ihr Fett weg. In der Wortwahl war er nicht zimperlich. Der Regierung warf er falsches Handeln vor, der Opposition Ideen- und Konzeptionslosigkeit.

Freund Werner inter­es­sierte das weniger. Polemi­sieren konnte er selber. Aber die Theorie, die Hirschberg ihm in großen Zügen darlegte, befand er für wert, näher bedacht zu werden. Sicherlich musste man sie noch weiter ausar­beiten, unter verschie­denen Gesichts­punkten abklopfen, insbe­sondere noch ein Handlungs­konzept daraus ableiten. Wenn das überzeugend gelänge, könnte man versuchen, es in die Partei einzu­bringen und eine Mehrheit dafür zu gewinnen. Ein zäher und Energie raubender Prozess. Zu Hirschberg: „Soviel ich weiß, sind Sie in keiner Partei. Zwar haben Sie mir mal erzählt, Sie hätten in der Politik und in Diensten einer Partei gearbeitet, aber offen ist geblieben, warum Sie nicht Mitglied dieser Partei geworden sind.“

Hirschberg ahnte, Freund Werner wollte ihm bedeuten, wer politische Ideen habe, solle diese auch selbst in der Öffent­lichkeit vertreten. Auf die gestellte Frage antwortete er wahrheits­gemäß: „Ich konnte mich immer nur mit Ausschnitten aus den Programmen der für mich infrage kommenden Parteien identi­fi­zieren, nie mit dem Gesamt­pro­gramm. Und bei den Personen hatte ich noch mehr Probleme; je näher ich sie kennen­lernte, umso weniger mochte ich mit der Mehrzahl von ihnen etwas zu tun haben. Ich bin kein Gefolgschaftsmensch.“

„Das ist kein Grund, nicht Partei zu ergreifen, sondern im Gegenteil, in eine Partei einzu­treten. Glauben Sie, mir würden alle Passagen unseres Partei­pro­gramms schmecken? Bei weitem nicht. Aber ich sitze jetzt im Vorstand, und ich werde darauf hinar­beiten, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem ich wieder ausscheide, mir mehr schmeckt als jetzt. Personen! Sie kennen doch das Bonmot, das Adenauer zugeschrieben wird: Feind, Erzfeind, Partei­freund. Parteien sind keine Harmonie-Vereine. Wenn sie es wären, wäre die Posten-Kungelei noch viel schlimmer, als sie es schon ist. Nein, in Parteien muss man sich durch­setzen, man muss für seine Ideen kämpfen und Mehrheiten gewinnen.“

„Dazu muss man aber auch die Zeit und Kraft haben.“

„Wenn Sie die nicht haben, mein Freund, andere haben sie. Aber die machen dann alles das, was Sie soeben so schön und wohlfeil kriti­siert haben. In jeder Partei gibt es so viele Möglich­keiten, sich zu engagieren, dass es nichts als eine faule Ausrede ist, zu sagen, man habe keine Zeit. Natürlich kann man mit seiner Zeit auch was anderes anfangen. Ich könnte mir auch eine Yacht ans Mittelmeer legen und wie manche meiner Unter­nehmer-Kollegen, die mir mit ihren Forde­rungen in den Ohren liegen, an den Abenden im Hafen auf die Scheiß-Politik in Bonn bezie­hungs­weise jetzt in Berlin schimpfen. Was meinen Sie, wie ich denen den Kopf wasche! Wer in der Freiheit einer Demokratie lebt, hat die Verpflichtung, sich an der Gestaltung des öffent­lichen Lebens zu betei­ligen. Sonst darf er sich nicht beklagen.“

Jetzt war das Gespräch auf einem völlig falschen Gleis, dachte Hirschberg. Der Fehler lag bei ihm. Er hatte sich von seinem Unmut wegreißen lassen, statt nüchtern und sachlich eine Zukunfts­per­spektive aufzu­zeigen und Ansatz­punkte zu politi­schen Maßnahmen zu nennen.

Noch ehe Hirschberg sich einen Ausweg überlegen konnte, kam die nächste Salve: „Wissen Sie, Hirschberg, ich mag keine Leute, die sich die Hände nicht schmutzig machen wollen. Es gibt in diesem Land viel zu viele Leute, die an den Politikern kein gutes Haar lassen, die alles besser wissen – manche haben das sogar zu ihrem Beruf gemacht – , aber dahin kommen, wo Politik gemacht wird, wollen sie nicht; dafür sind sie sich zu fein, da könnte man ja strapa­ziert werden, da könnten vielleicht die Hobbys drunter leiden. So verkommt eine Demokratie. Und schließlich haben wir in den Parteien nur noch oder überwiegend Leute, die als Oppor­tu­nisten genau das bestä­tigen, was an übler Nachrede über Politiker verbreitet wird.“

Mit dem Ton großen Bedauerns und Unmuts fuhr er fort: „Die fähigen Leute unseres Volkes meiden die Politik, lassen sich vielleicht noch als Gutachter engagieren, aber selbst in die Politik gehen – nein danke! Wer schließt sich schon einem Berufs­stand an, der in der Bevöl­kerung kein Ansehen mehr hat. Da darf sich keiner wundern, dass die Politik entspre­chend aussieht. Wir haben in Deutschland keinen Mangel an guten und richtigen Ideen, wir haben einen Mangel an Personen, die bereit sind, für ihre guten und richtigen Ideen in der politi­schen Arena zu kämpfen.“

Jetzt gab es kein Entrinnen mehr. Freund Werner holte zum finalen Schlag aus: „Sie haben mir ein konse­quent durch­dachtes und stimmiges Konzept angeboten. Ich lade Sie ein: Kommen Sie in unsere Partei, bringen Sie Ihre Vorstel­lungen ein, stehen Sie als Person für das ein, was nach Ihrer Überzeugung gut und richtig für Deutschland ist. Oder glauben Sie, ich brauchte Sie nur zu einer unserer Vorstands­sit­zungen einzu­laden, Sie tragen vor, was Sie mir eben vorge­tragen haben, wir sagen, Herr Hirschberg, wie wunderbar, auf so ein Konzept haben wir schon lange gewartet, wir werden es sofort zu einem Kapitel unseres Partei­pro­gramms machen, entspre­chende Gesetz­ent­würfe daraus machen, die so bestechend sind, dass der Deutsche Bundestag sie mit großer Mehrheit beschließen wird. So naiv werden Sie doch nicht sein!“

Hirschberg war erledigt. Freund Werner hatte ihn voll auf die Hörner genommen. Der winkte den Ober heran und fragte nach der Dessert­karte. Er reichte sie Hirschberg rüber. Er selber wolle keinen Nachtisch, aber einen Espresso, einen doppelten. Hirschberg wählte ein kleines Eis, keinen Kaffee.

„Und die Rechnung bitte!“, sagte sein Gastgeber zum Ober. Dann zu Hirschberg: „Sie kennen doch unsere parteinahe Stiftung. Da laden wir immer wieder mal inter­es­sante Leute in einen kleinen Kreis von Abgeord­neten ein, der sich losgelöst von der Tages­po­litik mit allge­meinen politi­schen Fragen befasst. Ich könnte vorschlagen, Sie zu einem der nächsten Treffen zu bitten. Was halten Sie davon?“

„Ich würde kommen.“

„Und noch was, wenn ich Ihnen als Freund einen Rat geben darf: Machen Sie aus Ihrem Thema ein Buch!“

Der Ober kam mit der Rechnung. Kurze Prüfung. Betrag großzügig nach oben gerundet. Kredit­karte. Blick auf die Uhr. Frage an den Ober: „Ist mein Fahrer schon da?“

„Ja, er wartet unten.“ Freund Werner brachte sich wieder auf die Beine. Hirschberg stand schon. Abgang. Wieder knarrte die Treppe. Verab­schiedung vor dem Eingang.

Freund Werner: „Sie hören von mir, ob das bei der Stiftung etwas wird.“ Hirschberg bedankte sich für Gespräch und Essen­sein­ladung. Dann trennten sich ihre Wege.

Als Hirschberg nach Hause kam, musste er sich erst einmal entspannen. Das war wohl gründlich daneben gegangen, gestand er sich ein. Freund Werner hatte Recht: Wer die Politik anderen überlässt, muss akzep­tieren, dass diese eine andere Politik machen. Eine Demokratie kann in Schieflage geraten, wenn den Medien keine überzeu­genden politi­schen Persön­lich­keiten gegen­über­stehen. Dann bestimmen nicht die handelnden Akteure, sondern die Medien das politische Klima. Dann kann die mediale Insze­nierung von Affären Wahlen entscheiden.

In Deutschland sind sich mittler­weile viele zu schade, um in die Politik zu gehen. Politik verdirbt nicht den Charakter, aber schlechte Charaktere die Politik. Freund Werners Stand­pauke war berechtigt. Nur er, Hirschberg, war das falsche Publikum. Ob der in seiner Egozentrik tatsächlich nicht bemerkt hatte, warum er nie und nimmer in der Lage war, seine Ideen politisch durch­zu­setzen? Er konnte als Ghost­writer sich nützlich machen, aber nicht selber in die Bütt steigen.

Vater und Tochter 

… Talente geerbt … biss sich auf die Zunge … auf den Grund kommen …
in unserer wissenschaftsgläubigen Zeit … Eltern machen Erziehungsfehler …

Hirschberg sah auf die Uhr. Jeden Augen­blick konnte seine Tochter kommen. Sie hatte viel an Verhal­tens­weisen und Einstel­lungen von ihm mitbe­kommen. Was war vererbt? Was war angenommen? Das würde man nie ausein­ander dividieren können. Zwar hatte die Mediz­in­for­schung heraus­ge­funden, dass es Charak­ter­schwächen gibt, die organische Ursachen haben können wie beispiels­weise Jähzorn, aber erstens war man sich dabei wohl doch nicht so ganz sicher, und zweitens war der Mensch ein so in sich verwach­senes Ganzes, dass bei aller Kunst des Sezierens und Diagnos­ti­zierens er ein Geheimnis blieb.

Menschen! Menschen wollen sich nicht nur nicht ändern, sondern außerdem auch noch an nichts schuld sein. Ihr Selbst­be­wusstsein ertrug das nicht. Wer keinen erbar­menden und Heil bringenden Gott kennt, der muss sich in Selbst­ge­rech­tigkeit und Unschuld wiegen, wenn er innerlich nicht zusam­men­brechen will.

Begangene Erzie­hungs­fehler nagen deshalb so unerbittlich an einem, dachte Hirschberg, weil sie nicht reparabel sind. Nicht die Eltern hatten sie auszu­baden, sondern die Kinder. Wenn sie dann ihrer­seits Kinder hatten, wollten sie denen ersparen, worunter sie selbst gelitten hatten – und machten dann den gegen­tei­ligen Fehler. Wenn sie ihre Eltern als zu weich erlebt hatten, erzogen sie ihrer­seits mit Strenge – und die Kinder der Kinder wurden als Eltern wieder Softies, weil sie nicht streng sein wollten.

Und wie hatte Hirschberg seinen Seelen­frieden mit den Auswir­kungen seiner Erzie­hungs­fehler gemacht, die bei seinen beiden Kindern unver­kennbar waren? Er hatte lange darunter gelitten. Sich immer wieder gefragt, was habe ich, was haben wir falsch gemacht? Hätten wir andere Schulen wählen sollen, den Kindern mehr Freiraum geben sollen? Hatte er ein falsches Vorbild gegeben? Zu ernst? Zu kontrol­lierend und korri­gierend? Zu wenig Lebensmut? Zu wenig Freude ausge­strahlt? Zu wenig Liebe?

Als er das Thema in den großen Zusam­menhang stellte, kam er zu der Einsicht, dass jeder Mensch als Erwach­sener einen Schluss­strich unter die Periode seiner Erziehung ziehen muss. Keiner wird ohne Erzie­hungs­fehler groß – auch er war belastet worden. Aber wie jeder andere hatte er die Aufgabe, aus sich das Beste zu machen. Jeder Mensch hat Talente geerbt, hat von seinen Eltern Gutes und Wertvolles übernommen. Darauf sollte man sich konzentrieren.

Außerdem sah er so etwas wie ein Ambiva­lenz­prinzip: Söhne wollen entweder werden wie der Vater oder genau das Gegenteil. Wie sollte er als Vater das beein­flussen? Zeigte er sich als überra­gender Vater, würden seine Kinder Minder­wer­tig­keits­kom­plexe bekommen. „Das erreichen wir nie in unserem Leben“, würden sie sagen. Also folgert der eine Sohn, „dann will ich wenigstens versuchen, ihm ein würdiger Sohn zu sein.“ Und der andere? Der sagt sich, „ich haue auf den Putz, mal sehen, was dabei rauskommt.“

Aber auch Väter von weniger überzeu­gendem Vorbild wirken ambivalent auf ihre Kinder. „Wenn der Alte dauernd vor der Glotze sitzt, dann suche ich mir andere Beschäf­ti­gungen, ich will ja nicht auch so verblöden, wie die Mutter ihm immer vorwirft“, sagt sich das eine Kind. Das andere Kind, Papas Liebling, hockt sich mit vor den Apparat. Denn wenn der Vater daran gefallen hat, „kann es für mich ja nicht schlecht sein“.

Hirschberg ging ins Unter­ge­schoß, sah im Kühlschrank nach, was an Vorräten da war. Als er schon wieder nach oben in sein Büro gehen wollte, klingelte es: Seine Tochter. Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Jeder musterte den anderen; sie hatten sich längere Zeit nicht gesehen.

Dann sie: „Ich soll dir schöne Grüße bestellen!“

„Von wem?“

„Von deiner Schwester.“

„Ach, warst du bei ihr?“

„Nein, sie rief mich an, weil sie in einer Vertrags­sache unsicher war.“

„Und du hast ihr helfen können?“

„Na klar doch. Sie meinte übrigens, du hättest dich aus Mallorca doch mal melden können.“

Diese älteren Schwestern! Immer haben sie etwas, was man hätte tun oder lassen sollen, dachte Hirschberg.

„Ich war doch nur ein paar Tage weg.“

„Hast du dich denn gut erholt?“

Es war ganz gut, aber eben etwas kurz. Irgendwann muss ich längeren Urlaub machen. Kommst du mit?“

„Lieber nicht; das wird doch kein Urlaub, weil wir dauernd disku­tieren und uns in den Haaren liegen.“

„Wir werden doch beide klüger. Oder du etwa nicht!“

„Siehst du, schon geht’s los mit den kleinen Stichen.“

„Was trinkst du? Apfelsaft?“

„Ich vermute, du hast nichts anderes.“

„Doch! Wasser!“

„Dann hätte ich gerne Apfelsaft.“

Hirschberg ging zum Kühlschrank, griff einen Pack Apfelsaft heraus, bog die oberen Enden hoch, schnitt das eine auf und das andere ein, damit es beim Eingießen nicht blubberte und spritzte. Für sich nahm er eine Mineral­was­ser­flasche, die neben dem Kühlschrank stand – er trank nicht kühlschrankkalt –, noch zwei Gläser aus dem Schrank, alles fallsicher gegriffen, zurück zum Couch­tisch und abgestellt. Er liebte es, auch banale Vorgänge bis ins letzte Detail zu perfektionieren.

Hannelore stand am Fenster und sah in den Garten. Der war pflege­leicht angelegt: Hecke, Sträucher und Rasen, keine Blumen­beete mehr, kein auch noch so kleiner Nutzgarten mit Peter­silie und Schnitt­lauch. Garten eines allein­ste­henden älteren Herrn. Einst war der Garten Mutter Hirsch­bergs Domäne: Blumen, frisches Gemüse, Obst. Der Vater trat zur Tochter. Sie wandte sich ihm zu: „Wie lange bin ich jetzt von hier weg?“

„Fünf Jahre.“

Sie rechnete nach: „Ja, stimmt.“

Sie gingen wieder zur Sitzgruppe und setzten sich. Ihr Reden war ein gegen­sei­tiges Umschleichen, so wie mitein­ander vertraute, aber nicht mehr aufein­ander fixierte Streit­hähne zuein­ander Distanz halten, in der Sorge, die alte Kampf­au­to­matik könnte wieder einrasten.

Hannelore: „Du hast gelesen, was mich beschäftigt. Was rät der lebens­er­fahrene Vater seiner jungen ehrgei­zigen Tochter?“

Sie kaschierte mit den Adjek­tiven ihr Unbehagen, ihrem Vater gegenüber Ratlo­sigkeit zu offen­baren. Diesen wunden Punkt hatte der sofort regis­triert und versuchte ihn nicht zu berühren: „Ich könnte sowohl dem Fortsetzen und Zu-Ende-bringen des Jurastu­diums als auch einem Psycho­lo­gie­studium etwas abgewinnen.“

Da war es wieder, dieses von ihr so gehasste Sowohl-als-auch. Und schon rastete sie ein: „Die Frage ist: Entweder Jura zu Ende machen oder abbrechen und Psycho­logie studieren!“

„Warum nicht Jura zu Ende machen und dann Psycho­logie studieren?“

„Dann bin ich ja eine alte Jungfer, wenn ich mit dem Studieren fertig bin.“

Fast hätte Hirschberg gesagt, so siehst du jetzt schon aus; mit deinem Kurzhaar­schnitt und den alle Weiblichkeit – so viel war da ohnehin nicht – verber­genden Klamotten à la grün-feminis­ti­scher Karrie­re­frauen. Er biss sich auf die Zunge.

„Ich würde auf jeden Fall die Jura zu Ende bringen. Halbgare Sachen taugen nichts. Und die Gründe, weshalb du das Jurastudium abbrechen willst, überzeugen mich nicht.“

„Warum nicht?“

„Zunächst sehe ich einen Wider­spruch. Du wendest dich gegen den Einfluss der Gutachter auf Gerichts­ur­teile. Das dürften ja wohl überwiegend psycho­lo­gische Gutachten sein. Aber genau dieses Fach willst du jetzt studieren, um dir selbst auf den Grund zu kommen. Aber das wollen die Richter doch auch: der Person auf den Grund kommen, die als Angeklagter vor ihnen sitzt. Dir soll die Psycho­logie bei der Lösung deiner persön­lichen Probleme helfen, der Richter aber soll gefäl­ligst nach seinen Paragraphen verfahren.“

„Das sehe ich anders. Die Richter kneifen. Sie wollen nicht ihre Paragraphen anwenden und ein Urteil mit eigener Urteils­kraft sprechen. Sie verstecken sich hinter den psycho­lo­gi­schen Gutachten, um ein Alibi zu haben.“

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Gott und Herr,

wir wollen respek­tiert, geachtet, geliebt werden.
Trotz all unserer Schwächen, Fehler und Irrtümer.
Trotz unserer Unacht­samkeit, Bequemlichkeit
und Bosheit. Wir möchten geliebt werden, so wie
wir sind. Gott, liebst Du mich wirklich?

Gott, Du bist in Deine von Raum und Zeit begrenzte
Schöpfung einge­treten. Als Gott und Mensch
zugleich. Durch Dein Leben, Leiden und Sterben
hast Du uns offenbart, dass die Welt auf Dein
Reich hin orien­tiert ist. Du liebst uns!

Wir sind unvoll­kommen, unein­sichtig und verführbar.
Ständig sind wir Plagen und dem Tod ausgesetzt:
Natur­ka­ta­strophen, Kriege, Seuchen, Terroristen,
Demagogen, Krank­heiten, Unrecht. Uns tröstet nur
die Hoffnung auf Dein Reich.

„Das wage ich nicht zu beurteilen. Aus welchen Motiven Richter sich wie verhalten und urteilen, ist deren Geheimnis. Sicherlich hat sich unsere Recht­spre­chung verlagert; und zwar von der Beurteilung der Tat hin zur Beurteilung des Täters. Hier dürfte das Problem liegen. Ein Richter, der nicht von Selbst­herr­lichkeit besessen ist, erlebt seine Unvoll­kom­menheit, sein Nicht­wissen, seine begrenzte Erkennt­nis­fä­higkeit – aber er muss ein Urteil fällen. In unserer wissen­schafts­gläu­bigen Zeit sucht er Hilfe bei den Psychologen.“

„Und die tischen ihm alles Mögliche an gängigen Klischees auf: schwere Kindheit, allein erzogenes Kind, Schul­pro­bleme, schlechte Freunde, nachteilige Milieus, keine Lehrstelle und so weiter. Unter diesen Gesichts­punkten kann es doch bald nur noch Freisprüche und Bewäh­rungs­strafen geben.“

„Kinder reicher Eltern begehen auch Straftaten.“

„Da steht dann im Gutachten: Verwahr­losung aufgrund mangelnder Wahrnehmung der Erziehungspflichten.“

„Aber den Psycho­logen willst du doch gar nicht auf die Schliche kommen, wenn ich dich richtig verstehe. Du willst mehr über dich selbst erfahren.“

„Weil ich die meisten Probleme mit mir selbst habe.“

„Welche?“

Sie dachte: Soll ich mich offen­baren? Kann er mich überhaupt verstehen, da er doch als Vater nicht ganz unschuldig an meinen Problemen ist. Sie musste jedoch mit einem darüber sprechen – und sie hatte sonst niemanden.

„Warum gelingt es mir nicht, Freunde zu gewinnen? Warum halten mich alle für kalt und unzugänglich?“

„Das bin ich schuld!“

„Was?!“

„Alle Eltern machen Erzie­hungs­fehler. Deine haben auch welche gemacht. Und du musst nun damit leben. Denn wir können dich nicht nochmal erziehen. Es gibt keinen zweiten Versuch, der zudem auch nicht besser ausfallen müsste. Sicher wäre nur, dass er anders ausfällt. Du kannst aller­dings versuchen, dich durch eigene Anstrengung von deinen Problemen zu befreien. Dazu müsstest du bereit sein, an dir zu arbeiten, auf die Gefahr hin, dass es weh tut.“

„Du hast mir die Suppe einge­brockt, und ich soll sie auslöffeln.“

„Das nennt man Generationenverbund.“

„Ich dachte Generationenvertrag.“

„Das verwech­selst du – oder auch nicht: Die Sozial­po­li­tiker jeden­falls meinen, die nachwach­senden Genera­tionen hätten für die voraus­ge­henden mit ihren Steuern und Abgaben aufzukommen.“

„Und für deren Schulden. Damit die sich einen angenehmen Ruhestand in Paguera oder anderswo leisten können. Nichts da; erstens müssen künftig alle bis zu ihrem 70. Lebensjahr arbeiten, zweitens gibt es nur noch Ernährungs‑, Wohn- und Kleider­marken für Pensionäre und Rentner. Keine monat­lichen Überwei­sungen mehr, keine Baraus­zah­lungen. Nur noch Gutscheine, die beim Sozialamt abzuholen sind. Ihr sollt euch möglichst schnell zu Tode langweilen.“

„Du bist grausam.“

„Nein. Das ist die gerechte Strafe für eine Eltern­ge­neration, die ihren Kindern eine kaputte Umwelt, Schul­den­berge und eine nicht mehr konkur­renz­fähige Wirtschaft hinterlässt.“

„Solange wir eine Demokratie haben, wird es zu dieser Vernich­tungs­aktion nicht kommen. Denn die Alten, für dich bitte Senioren, sind bereits die entschei­dende Wählergruppe.“

Jetzt waren sie in einem Fahrwasser, das beide im Umgang mitein­ander mochten: In Ironie verkleiden, was im Klartext nicht auszu­sprechen oder belei­digend gewesen wäre. So konnte man seine Aggres­sionen los werden.

Sie: „Eure Demokratie werden wir abschaffen. Wir lassen euch auf euren Wahlzetteln einfach sitzen. Schließlich sind wir die aktive Generation, die das Sozial­produkt erwirt­schaftet, also in der Hand hat. Entweder ihr gebt euch zufrieden mit dem, was wir euch zugestehen, oder wir schaffen euch ab. Ihr glaubt doch nicht, dass wir uns voll in die Riemen legen, damit ihr weiterhin in Saus und Braus leben könnt. Für wie blöd haltet ihr uns eigentlich!“

„Wie viele von euch Nachwach­senden sind denn überhaupt in der Lage, an einem genügend großen Sozial­produkt mitzuwirken?“

„Umso schlimmer für euch. Dann gibt es nicht mal mehr Bezugsscheine.“

„Die Tauge­nichtse, die wir euch ins Nest gesetzt haben, werden euch fertig machen.“

„Dann müssen wir leider auswandern und euch mit den Tauge­nichtsen im Nest Deutschland allein lassen.“

„Anderswo wartet man ja auch schon auf euch.“

Biographie

Sie war jung; sie war schön. Nicht dumm, aber unwissend. Begabt, aber vernach­lässigt. Begehrt, verführt, vernascht: Ophelia.

Ihre Eltern: berufs­tätig, Hobby­isten, Ego-Sozia­­listen – ständig mit ihrem Wohlergehen beschäftigt. Erfüllte Pflichten: Behausung, Bekleidung, Nahrung.

Service des Staates: Krippe, Kita, Schule. Ophis Eltern verließen sich darauf. Zuhause kein Buch. Nur Fernsehen. Urlaub All-Inklusive.

Noch bevor Ophi sich selbst entdeckt hatte, entdeckten sie die Jungs. Sie kam immer später nach Hause. Sie wurde zur perfekten Lügnerin.

Wer war Ophi? Keine gute Schülerin. Spielball von Lehrern und Mitschülern. Sie fühlte sich ständig in Gefahr. Sie bekam Angst vor dem Leben.

Freude überkam das aufkei­mende schöne Mädchen im Zusam­mensein mit Jungs. Denn sie glaubte deren Verspre­chungen, zweifelte nur an sich.

Ophi wurde schwanger, ließ sich heiraten. Dem Alltag war sie nicht gewachsen. Sie wurde vom Vater ihres Kindes verlassen, geschieden.

Niemand vermochte sie aufzu­fangen. Ihre Eltern stieß sie zurück. Sie griff zur Flasche. Alkoho­li­kerin. Das Kind wurde ihr genommen.

Ein nicht mehr ganz junger Mann sah in ihrer Hilflo­sigkeit seine Chance und nahm sie zu sich. Sie ergab sich und war ihm zu Diensten.

Nach einiger Zeit versuchte sie einen Ausbruch: zu ihren Eltern. Doch nach der ersten Freude kamen nur Vorhal­tungen und Zwang. Verständnislosigkeit.

Da floh sie zurück zu dem Mann, der sie aufge­nommen hatte, sie nicht wie die Eltern in eine Entzie­hungskur stecken wollte, sondern sie nahm, wie sie war.

Der Alkohol zerfraß ihre Leber. Sie stahl sich aus der Welt. Die Ärzte konnten nicht mehr helfen. Sie starb auf der blinden Suche nach Liebe und Glückseligkeit.

„Dank der hervor­ra­genden Ausbildung, die ihr uns habt zukommen lassen – gratis an überfüllten und komplett verschulten Hochschulen –, sind wir überall willkommen. Wir werden die Chancen der Globa­li­sierung nicht ungenutzt lassen. Auf Wiedersehen!“

Beide brachen in lautes Lachen aus. Ein befrei­endes Lachen. Jetzt waren sie beiein­ander. Hirschberg setzte sich neben sie und legte den Arm um sie; sie legte die Hand auf sein Knie.

Beide sahen stumm vor sich hin. Er begann wieder, jetzt ohne Ironie: „ Deine Mutter und ich hatten den Ehrgeiz, aus dir und deinem Bruder möglichst gescheite Menschen zu machen. Wer möchte keine klugen Kinder haben! Wir glaubten, euch möglichst viel von unserem Wissen und unseren Überzeu­gungen vermitteln zu müssen. Wir haben euch auf jeden Fehler, den ihr machtet, aufmerksam gemacht, euch korri­giert, euch vorge­macht, wie es richtig geht, euch nichts durch­gehen lassen. Bewirkt haben wir, dass ihr hohe Maßstäbe verin­ner­licht habt, vor allem du. Dein Bruder ist unter diesem – wie ich heute weiß – Überdruck in die Knie gegangen.“

„Ihr habt eine Erzie­hungs­ruine aus ihm gemacht.“

„Er wollte ein lieber artiger Junge sein und ist als erwach­sener Mann prompt unter den Pantoffel geraten. Du hast dem Druck stand­ge­halten – und hast dich verhärtet, um deinen Maßstäben gerecht zu werden, rigoros, ohne Abstriche. Während dein Bruder unseren Ehrgeiz, aus euch kluge, lebens­tüchtige Menschen zu machen, mit seinem Rangord­nungs­ver­halten, nämlich in der Unter­ordnung bewäl­tigte, hast du sachbe­zogen reagiert, dich sozusagen intel­lek­tuell hochge­zogen, um uns irgendwann Paroli bieten zu können. – Bin ich verständlich?“

„Durchaus. Für Thomas schade, weil ihn das seine Ehe gekostet hat, aber für mich doch nicht schlecht?“

Er sah sie von der Seite an. Wären da nicht die Ohrringe gewesen – man könnte einen jungen Mann in ihr sehen. Sie spürte seinen Blick und wandte sich ihm zu: „Du meinst, meine intel­lek­tu­ellen Ansprüche wirken abstoßend? Aber ich kann sie doch nicht niedriger hängen.“

„Brauchst du auch nicht. Aber du darfst sie nicht absolut setzen. Außerdem gibt es noch andere Maßstäbe. Intel­lek­tua­lität ist nicht alles. Es gibt liebens­werte Dummköpfe.“

Sie sah ihn mit großen Augen an. „Und wieso sagst du mir das erst jetzt?“

„Konnte ich ahnen, dass du alles so ausschließlich und absolut aufnehmen würdest? Ich hatte immer gedacht, wenn sie nur ein wenig davon sich zu eigen macht, was ich ihr zu vermitteln versuche, müsste sie sich im Leben behaupten können.“

„Du hast nicht gemerkt, wie ernst ich das alles genommen habe?“

„Nein. Im Gegenteil. Ich dachte, hinter deinen Protesten stünde Ablehnung – und habe meine Anstren­gungen erhöht.“

„Ich bin also Opfer eines Missverständnisses.“

„So gesehen, ja.“

„Das ist aber eine schöne Bescherung. Und was tust du, um das wieder gut zu machen?“

„Mehr als dich in den Arm nehmen, kann ich nicht. Denn was haben wir eben festge­stellt: Die Eltern brocken ein, und die Kinder löffeln aus. Die Kinder brocken ihren Kindern wieder ein und so weiter.“

Jetzt brauchte sie eine Pause und sagte: „Hast du etwas zu essen im Haus. Seit dem Frühstück habe ich nichts mehr gegessen.“

„Ich lade dich zum Italiener ein.“

„Kann ich über Nacht hier bleiben?“

„Dein Zimmer ist, wie du es verlassen hast.“

„Das ist schön, wenn man ein Zuhause hat, wohin man jederzeit zurück­kehren kann. Aber fremd ist es mir hier doch mittler­weile. Und die Mutter fehlt!“

Beim Italiener sprachen sie über die schlimme Zeit, als die Mutter vor ihrem Tod so leiden musste. Die Tochter sprach ihrem Vater Bewun­derung aus für die Pflege, die er auf sich genommen hatte. Sie bedauere, sich so wenig Zeit genommen zu haben, ihm dabei zu helfen. Aber sie wäre mit der Situation kaum fertig geworden. Hirschberg erzählte, wie schwer diese Monate für ihn waren, und dass er erst nach und nach das Erleben habe bewäl­tigen können.

Ob ihm das Alleinsein Probleme mache, wollte sie wissen. „Am Anfang ja, jetzt nur noch hin und wieder.“ Mit dem Gedanken müsse sich jedes Ehepaar vertraut machen, nach aller Wahrschein­lichkeit nicht gemeinsam zu sterben; also einer zurück­bleibe. Er komme zumindest mit den prakti­schen Dingen mittler­weile ganz gut zurecht. Alles sei sachge­recht und zeitsparend geregelt.

Grund­sätzlich jedoch: Ein Mensch sollte nicht allein leben. Er würde dann überzogene Eigen­arten entwi­ckeln und unerfüllte Sehnsüchte pflegen. Sie wollte wissen, was er denn von wechselnden Partner­schaften halte? Der Vater meinte, in jungen Jahren sollte man unbeschwert Bekannt­schaften machen und auch Freund­schaften schließen. Anders könne man mit sich und anderen aufgrund gemein­samen Erlebens keine Erfah­rungen sammeln. Man solle nicht bei Hallo-Kontakten stehen bleiben. Ob er Ehen noch für zeitgemäß halte? Von Unauf­lös­barkeit wolle sie gar nicht reden.

„Was meinst du, was für Kinder gut wäre?“, fragte er zurück. „Hättest du groß werden wollen bei einem Vater und einer Mutter, die nur mal so vorüber­gehend mitein­ander leben? Und würdest Du mit der Vorstellung klar kommen, dass deine Eltern dich gar nicht zeugen, sondern lediglich Sex mitein­ander haben wollten, dabei aber nicht aufge­passt haben?“

„Du hast recht; der Gedanke, in Liebe von meinen Eltern in die Welt gebracht worden zu sein, ist mir lieber.“

„Ist dir als Kind jemals der Gedanke gekommen, deine Eltern könnten sich trennen?“

„Nein.“

„Kannst du dir vorstellen, du hättest auf das Zusam­men­leben mit mir mehr oder weniger verzichten müssen, weil man dich nach der Scheidung deiner Eltern deiner Mutter zugesprochen hätte?“

„Es war mir so lieber, wie es war.“

„Mit welchen Augen hättest du die Frau betrachtet, die du eines Tages als meine neue Partnerin kennen­ge­lernt hättest, die ich also deiner Mutter gegenüber vorge­zogen hätte?“

„Mit kriti­schen Augen.“

„Und wenn aus dieser Partner­schaft weitere Kinder hervor­ge­gangen wären, also Halbge­schwister von dir, mit denen du aufgrund des Alters­un­ter­schieds kaum zusam­men­gelebt hättest?“

„Ich weiß es nicht. Das ist mir jetzt zu viel ‘hätte’ und ‘wäre’.“

„Es ist die Wirklichkeit. Du hast die Ehe infrage gestellt, und ihre Unauf­lös­lichkeit hältst du für unzeit­gemäß. Ist doch so?“

Sie schwieg. Denn sie spürte den Wider­spruch, auf den sie ihr Vater mit seinen Fragen hinge­wiesen hatte. Und sie wusste keinen Rat. Auf der einen Seite konnte sie sich nicht vorstellen, durch ein Versprechen sich unauf­löslich an einen Mann zu binden, anderer­seits gehörten die beiden, denen man sein Leben verdankte, in der Tat zusammen. Denn Kinder brauchten schon ein paar Jahre, um lebens­tüchtig zu werden. Und das sollte nicht nur Aufgabe der Mutter sein. Sie jeden­falls würde nicht allein erzie­hende Mutter sein wollen. Dass der Staat die Eltern­aufgabe übernehmen könne – so ein Schwachsinn konnte nur verbohrten Sozia­listen oder selbst­süch­tigen Kapita­listen einfallen.

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