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Zukunftsfragen

… miteinander im gemeinsamen Zuhause … Kathas neues Leben … 
Aufgabenverteilung … Vortrag: Unternehmerzukunft … Trauzeugen

Als Hirschberg zurück nach Mehlem kam, sah er sein Haus mit anderen Augen. Er war dort nicht mehr der Überle­bende, der einsam seiner Arbeit nachging, wo früher Kinder tobten und seine Frau ihnen und ihm die Gebor­genheit eines Heimes gab. Nein, in dieses Haus war Zukunft einge­kehrt. Aber der Geruch, der ihn empfing, erinnerte an die Einsamkeit der Zwischenzeit. Er zog die Rolläden hoch und schob die Gardinen zur Seite, öffnete die Fenster und ließ frische Luft herein.

Gelebt hatte er in den letzten Jahren eigentlich nur in seinem Arbeits­zimmer. Das würde sich jetzt ändern. Er ging ins Schlaf­zimmer. Hier musste vor allen Dingen gelüftet werden. Auch die Schrank­türen öffnete er, damit auch dort der Muff heraus­fände. Er nahm die Tages­decken von den Betten. Die Bettwäsche war abgezogen. Saubere Wäsche fand er in der Kommode. Er breitete Bettücher und Kissen­bezüge aus. Denn auch sie brauchten erst mal frische Luft.

Hirschberg ließ sich auf eine der beiden Matratzen fallen, streifte die Schuhe aus und schob sich eines der Kissen unter den Kopf. Er gab sich der beglü­ckenden Erinnerung an den gestrigen Tag hin, empfand die berau­schenden Momente intensiv nach.

Als er so eine Zeitlang gelegen hatte, kam ihm erneut die Frage: Wie soll es weiter­gehen? Die Entscheidung fürein­ander war gefallen. Jetzt galt es, daraus ein Mitein­ander zu machen. Dazu war es unumgänglich, einiges aufzu­geben. Eigentlich müsste man alles aufgeben, zumindest infrage stellen, und gemeinsam neu beginnen. Wollte er das? Könnte er das? Er verspürte Unlust, sich auf diese Gedanken, Fragen oder gar Zweifel einzu­lassen. Statt dessen stellte er sich vor, wie er diesen Abend mit Katha hier beisammen liegen würde, im frisch bezogenen Ehebett.

Sie kam am frühen Abend. Er hatte einge­kauft und das Abend­essen vorbe­reitet. Im Wohnzimmer hatte er den Esstisch festlich gedeckt, mit ein paar Blumen aus dem Garten und einer Kerze.

Sie: „So habe ich mir das immer gewünscht: nach Hause an den liebevoll gedeckten Tisch kommen.“

„Damit kein Missver­ständnis entsteht: Ich wollte meinen Beruf nicht aufgeben und Hausmann werden.“

„Kannst du denn nicht beides?“

„Mit der Doppel­be­lastung wäre ich überfordert.“

„Aber von uns Frauen erwartet man das.“

„Ich nicht.“

„Aber einer muss es doch machen.“

„Wieso einer? Beide!“

„Einver­standen. Was übernimmst du?“

„Das Abend­essen.“

„Dann mache ich das Frühstück. Aber wenn wir beide im Haus sind, machen wir beides gemeinsam.“

Er schob nach: „Was ist mit Wäsche waschen und bügeln?“

„Das müssen wir nicht heute Abend regeln. Aber worüber ich mit dir gerne heute Abend oder in den nächsten Tagen reden würde, das ist meine beruf­liche Zukunft.“

Hirschberg beim Abend­essen: „Damit aus unserem Leben ein Leben mitein­ander wird, muss jeder von uns seine indivi­duelle Lebens­weise aufgeben. Was willst du aufgeben?“

„Da ich noch wenig festgelegt bin, habe ich eher das Problem, was ich an Aufgaben übernehmen soll. Du bist derjenige, der sich fragen muss, was er aufgeben will.“

„Aufgrund dessen, was du von mir weißt – was soll ich denn deiner Meinung nach aufgeben?“

„Fangen wir vielleicht anders an: Wie können wir erreichen, dass wir beide möglichst viel zuhause sind und gemeinsam etwas tun?“

„Ich könnte versuchen, noch mehr Arbeit von hier aus zu erledigen. Wenn ich die Aufträge entspre­chend akqui­riere und es mir gelingt, die Nutzung der modernen Kommu­ni­ka­ti­ons­mittel zu inten­si­vieren, dann ließen sich die Außen­termine um einiges reduzieren. Ausschließlich zuhause zu arbeiten – das wird nicht gelingen, wäre für meine Arbeit nicht gut. Ich muss in die Unter­nehmen, um zu sehen, was sich da abspielt.“

„Ich muss entscheiden, ob ich Mettmann endgültig aufgebe, das Studium an den Nagel hänge und dann als deine Sekre­tärin Vollzeit mache. Das Neben­ein­ander ist jetzt vorbei. Man kann sich nicht alles offen halten.“

„Zu welchem Beruf soll dich dein Studium führen?“

„Außer Lehramt habe ich keine Vorstel­lungen. Weil ich aber Zweifel habe, ob das überhaupt das Richtige für mich ist, hänge ich da ziemlich in der Luft.“

„Du hast angedeutet, du hättest dir etwas überlegt.“

„Die Organi­sation der Turniere in Mettmann macht mir Spaß. Vielleicht könnte ich das auf andere Veran­stal­tungen ausdehnen.“

„Event­ma­nager nennt man das. Also das Studium aufgeben?“

„Unter dem Aspekt eines späteren Berufs sehe ich in meinem Studium keinen Sinn mehr.“

„Dann würde ich es an deiner Stelle aufgeben. Denn du brauchst Fähig­keiten und Erfah­rungen, die dir das Selbst­ver­trauen geben, damit Geld verdienen zu können. Einen vorge­schrie­benen Ausbil­dungsgang mit anschlie­ßender Berufs­be­zeichnung braucht man dafür nicht unbedingt. Schon heute üben die wenigsten Menschen den Beruf aus, den sie einmal gelernt haben. Das wird künftig noch zunehmen.“

„Also Mettmann. Kinder­training auslaufen lassen und statt dessen Veran­stal­tungen managen? Aber dann bin ich nicht viel zuhause.“

„Von zuhause aus kannst du Veran­stal­tungen vermarkten, die andere managen. Telefo­nieren, faxen und mailen kannst du von jedem Ort aus. Nur wenn die Veran­stal­tungen laufen, musst du vorort sein. Das kannst du von hier aus und parallel zu der Arbeit für mich machen.“

„Ich überlege mir das.“

Damit war das Gespräch fürs erste beendet. Sie infor­mierten sich über ihre Termine der nächsten Zeit, um zu sehen, wann sie zusammen sein könnten. Als sie erfuhr, dass er in Ludwigsburg einen Vortrag über „Die Unter­nehmen der Zukunft“ halten werde, äußerte sie den Wunsch mitzu­fahren. Er stutzte. Damit hatte er nicht gerechnet. In den Jahrzehnten seiner Selbstän­digkeit war er stets als Einzel­kämpfer aufge­treten. Nie war seine Frau mitge­kommen. Sie drinnen, er draußen – das war die Rollen­ver­teilung. Jetzt nicht mehr allein zu reisen, sondern mit Katha als Partnerin – das war doch großartig. Die Bosse würden Augen machen – sollten sie!

Zu Katha: „Als wen soll ich dich denn vorstellen?“

„Als deine Frau natürlich.“

„Wenn ich das Manuskript fertig habe, brauche ich dich als Probepublikum.“

„Du willst den Vortrag vorab probe­weise halten und ich soll mir das anhören?“

„Genau so!“

Hirschberg gefiel, wie sie in die Partner­schaft einstieg. Er fragte: „Wollen wir in der Öffent­lichkeit als zusam­men­le­bendes Paar auftreten und es dabei bewenden lassen, oder möchtest du, dass wir zum Standesamt gehen?“

„Ich möchte deinen Namen tragen.“

„Und deinen Nachnamen aufgeben?“

„Der Name Dohmen galt bisher.“

Schon wieder überraschte sie ihn. „Von mir aus könntest du einen Doppel­namen tragen.“

„Was soll das? Ich habe mich für dich entschieden und dazu gehört auch dein Name.“

Hirschberg stand am Schreibpult und arbeitete an seinem Vortrag. In einer Pause ging er daran, die standes­amt­liche Trauung vorzu­be­reiten. Wer sollten die Trauzeugen sein? Seine Schwester und Mutter Dohmen waren auszu­schließen. Wer dann? Verwandt­schaft? Bekannte? Er rief beim Standesamt an, um den Ablauf zu erfahren. Sollten sie eine Feier anschließen? Zumindest ein Essen mit den Trauzeugen. Und eine kirch­liche Trauung? Das war erst noch zu besprechen.

Wieder am Schreibpult setzte er seine Vortrags­vor­be­rei­tungen fort. Seine Kernge­danken formu­lierte er aus, alles andere schrieb er nur in Stich­worten auf. Probelauf vor Katha:

„Radikaler denn je wird sich Überleben und Wohlstand aus einem weltweiten Wettbewerb heraus gestalten. Das werden national orien­tierte Regie­rungen und Gegner der Globa­li­sierung nicht verhindern können. Unter­nehmer wissen, dass sie sich auf den Märkten gegen alle Widrig­keiten und Härten durch­setzen müssen. Dazu brauchen sie Kreati­vität und Reali­tätssinn. Unter­nehmer müssen sich vorstellen können, was sein könnte, und sie müssen überwinden, was ihnen an Wider­stand entge­gen­ge­setzt wird. Wie werden sie das in Zukunft tun?

Unter­nehmen sind gezwungen zur Kosten­mi­ni­mierung. Regie­rungen, die um der sozialen Errun­gen­schaften und der sozialen Gerech­tigkeit willen das torpe­dieren oder gar konter­ka­rieren, treiben ihre Unter­nehmen ins Ausland oder in die Pleite – und damit stoßen sie ihr Land in die Krise, in der sich soziale Errun­gen­schaften und soziale Gerech­tigkeit schließlich erübrigen, da kein Geld mehr verdient wird.“

Erläu­ternd zu Katha gesprochen: „Nach dieser Einleitung will ich die Vorteile der Globa­li­sierung insbe­sondere bei der Kosten­mi­ni­mierung heraus­stellen.“ „Verstanden. Mach weiter.“

„Kosten­mi­ni­mierung heißt: die Unter­neh­mens­struk­turen und Organi­sa­ti­ons­ab­läufe unablässig ratio­na­li­sieren; heißt: kein totes Kapital zulassen, sondern gewinn­bringend inves­tieren; heißt: weltweit die Standorte für die einzelnen Geschäfts­be­reiche wählen, die konkur­renz­fähig sind und sparen helfen. Das und anderes mehr ist nur zu haben, wenn bei klaren Zielset­zungen mit einem Höchstmaß an Flexi­bi­lität konse­quent gehandelt wird.

Ideal­ty­pisch wäre ein Unter­nehmer, der so viel Kapital flexibel zur Verfügung hat, dass er seine Inves­ti­ti­ons­vor­haben zu jeder Zeit und an jedem Ort ausführen kann; der so beweglich ist, dass er weltweit die Markt­chancen für seine Produkte und Dienst­leis­tungen wahrnehmen kann.

Die Großun­ter­nehmen in unserer mittler­weile wirklich einen Welt versuchen, sich durch schiere Größe als Global Player durch­zu­setzen. Der Gefahr der Schwer­fäl­ligkeit begegnen sie mit Organi­sa­ti­ons­ein­heiten wie Profit Centers, mit internem Wettbewerb der Standorte und konti­nu­ier­lichen Verbes­se­rungs­pro­zessen. Dadurch schaffen sie erfolgs­ori­en­tiertes Handeln bis hinunter zum einzelnen Mitarbeiter.

Mächtige weltum­span­nende Konzerne sind so entstanden. Ihre Führungen tun alles, damit sich die Mitar­beiter voll und ganz mit dem Unter­nehmen identi­fi­zieren, wie das in früheren Jahrhun­derten die Menschen mit ihrem Fürsten oder ihrem Vaterland taten. Heute folgt man nicht mehr dem Wappen, heute folgt man dem Firmen­zeichen, dem Logo, trägt voller Stolz die Auszeich­nungen, die einem wegen beson­derer Verdienste beispiels­weise im Verkauf verliehen wurden. Die kleinste Organi­sa­ti­ons­einheit, der einzelne Mitar­beiter, soll stolzer, engagierter und flexibler Teil des Ganzen sein.“

Katha unter­brach ihn: „Beschreibst du nicht Zusam­men­hänge, die deinen Zuhörern geläufig sind? Könnte sie das nicht langweilen?“ „Ich will das darstellen, um anschließend die negativen Folgen aufzu­zeigen.“ „Lass hören!“

„Was aber ist mit den mittel­stän­di­schen und kleinen Unter­nehmen? Sie haben beste Überle­bens­chancen, voraus­ge­setzt der Staat erwürgt sie nicht mit seiner Regulie­rungswut. Denn die großen Konzerne lassen nicht nur große Markt­felder unbeackert liegen, sondern schaffen auch neue Märkte. Ihre Größe zwingt sie zum Massen­ge­schäft. Das eröffnet innova­tiven Unter­nehmern vielfältige Chancen zur Entwicklung neuer Angebote, mit denen sie Markt­lücken, Nischen besetzen. Dazu brauchen sie unter­neh­me­rische Mitarbeiter.

Sie brauchen Mitar­beiter, die mitdenken, die strate­gisch vorgehen, Projekte leiten, die vollen Einsatz bringen und sich gegen­seitig motivieren. Dazu müssen die Mitar­beiter unabhängig sein und eine unver­wüst­liche Gesundheit haben. Alle, die auf Dauer oder auf Zeit im Unter­nehmen der Zukunft tätig sind, müssen topfit sein – geistig, fachlich, körperlich.

Dabei muss der Unter­nehmer mit seiner Kernmann­schaft nicht selber sämtliche Manage­ment­funk­tionen ausüben. Ein Heer von Spezi­al­firmen und Selbstän­digen ist ihm zu Diensten. Sie unter­suchen für ihn die Märkte. Sie regeln seine Finanz­ge­schäfte. Sie nehmen ihm die Perso­nal­arbeit ab. Sie erledigen die Ausar­beitung von Verträgen. Sie erarbeiten die Unter­lagen für eine Entschei­dungs­findung. Sein Job ist, zu bewerten und zu entscheiden, anzustoßen und zu motivieren.“

Er fragte Katha: „Ist das verständlich?“ „Für deine Zuhörer denke ich schon, für mich weniger. Aber diese totale Inanspruch­nahme der Mitar­beiter, die du beschreibst, macht mir Angst.“ „Das kommt jetzt.“

„Sieht so tatsächlich das Unter­nehmen der Zukunft aus? Eine global agierende Hochleis­tungs­truppe? Das ist in der Tat das Ziel vieler Unter­nehmen. Und einige sind auf ihrem Weg dahin schon weit fortge­schritten. Dennoch: Ich glaube nicht, dass derart auf den wirtschaft­lichen Erfolg getrimmte Unter­nehmen die Zukunft gewinnen werden! Denn sie lassen eines außer Acht, übersehen die wichtigste Voraus­setzung für ihr gesamtes Handeln, unter­graben sogar mit der Verkürzung des Menschen auf sein Potential als Gewinn­bringer das Fundament der eigenen Existenz. Sie versäumen – techno­kra­tisch gesprochen – die Repro­duktion der Ressource Mensch.

Bis in die jüngere Vergan­genheit wurden genügend Kinder geboren. Der Nachwuchs war kein Thema. Aber jetzt ist er ein Thema. Die Bevöl­kerung überaltert und schrumpft. Da immer mehr Frauen in die Wirtschaft gegangen sind, konnte die Wirtschafts­leistung zwar gesteigert werden, aber die Gebur­tenrate sinkt. Die Frauen­re­serve ist bald aufge­braucht. Der Versuch, den Frauen Beruf und Familie mit Kindern schmackhaft zu machen, ist gescheitert. Immer mehr Frauen entscheiden sich gegen Kinder.“

Zu Katha gewandt: „Kommt das rüber?“ „Mir ist nicht klar, worauf du hinaus willst.“ „Ich will aufzeigen, dass das ‚schneller – höher – weiter’ der Unter­nehmen im weltweiten Wettbewerb in eine Sackgasse führt.“

Mit sich unzufrieden ging Hirschberg auf und ab, dachte er nach. Dann erläu­terte er, warum er den Bevöl­ke­rungs­schwund thema­ti­sieren wollte: „Ein großer Teil meiner Arbeit bestand bisher darin, Unter­nehmern zu größerer Effek­ti­vität zu verhelfen. Jetzt erkenne ich, dass die Unter­ordnung einer Gesell­schaft unter den Erfolg ihrer Unter­nehmen gefährlich werden kann. Früher war die Hälfte der Bevöl­kerung mit der Aufzucht der Folge­ge­neration beschäftigt. Heute ist die gesamte Gesell­schaft wohlstands­ori­en­tiert beschäftigt. Selbst der Staat hat kaum noch ein anderes Ziel als die Wohlstandsmehrung.“

„Und was willst du ändern?“

„Gegen Wohlstand habe ich nichts. Mir ist jedoch deutlich geworden, dass der Wohlstand von heute, so wie wir ihn hervor­bringen bezie­hungs­weise zu erhalten versuchen, die Armut von morgen verur­sacht. Um das zu verhindern, muss die Zukunft viel stärker, als das zur Zeit geschieht, mitbe­dacht werden, insbe­sondere der Wohlstand auf Pump muss aufhören.“

„Das willst du rüberbringen?“

„Ich will die Aufmerk­samkeit darauf lenken, dass Unter­nehmen langfristig ihren Untergang program­mieren, wenn sie die Zukunft der Gesell­schaft nicht in ihr Kalkül einbeziehen.“

„Aber niemand kann die Zukunft verlässlich voraus­sagen. Da ist es doch besser, sich erst einmal auf das Heute zu konzentrieren.“

„Eines kann man verlässlich für die Zukunft voraus­sagen: Ohne eine genügende Kinderzahl und ohne eine Erzie­hungs­leistung, die kulturell fundiert ist, bricht der ganze Laden zusammen.“

„Für diese Botschaft wirst du aber nicht viel Beifall bekommen.“

„So drastisch werde ich es ja auch nicht sagen. Aber ich könnte auf die Umwelt­schäden hinweisen, die nach wie vor zukunfts­ge­fährdend sind. Unter­nehmer kennen das Thema. Und daran könnte ich anschließen, dass Unter­nehmen sich in gleicher Weise ehe- und famili­en­ge­recht organi­sieren müssen.“

„Das finde ich gut.“

Hirschberg ging an die Überar­beitung seines Manuskripts. Bei nächster Gelegenheit trug er die überar­beitete Fassung Katha vor. Ja, jetzt könne sie mehr damit anfangen. Aber sie sei nach wie vor skeptisch, ob sein Unter­nehmer-Publikum seine Vorstel­lungen akzep­tieren würde.

Neuorientierung

nicht mehr allein … ab jetzt als Ehepaar … seine Zuhörer gelangweilt und dann
überfordert … Familienmanagerin … mir könnte die Idee gefallen

Sie fuhren zusammen nach Ludwigsburg. Katha saß am Steuer. Hirschberg genoss es, sich nicht auf den Verkehr konzen­trieren zu müssen. Sie trafen am Abend vor Hirsch­bergs Auftritt im Tagungs­hotel ein.

Am nächsten Morgen wurde Hirschberg im Frühstückssaal vom Tagungs­leiter begrüßt, wurden ihm einige Herren vorge­stellt. Andere stellten sich selbst vor, wieder andere kannte er von früheren Veran­stal­tungen her. Katha fand bei einigen Herren die ihr gewohnte, wenn auch von ihr nicht geschätzte mit Kompli­menten angerei­cherte Aufmerksamkeit.

Gegen 10 Uhr füllte sich der Vortragsraum. Die Unter­nehmer standen in Gruppen umher. Der Vorsit­zende löste sich von seiner Gesprächs­gruppe und forderte mit lauter Stimme und Hände­klat­schen dazu auf, Platz zu nehmen. Katha setzte sich in die letzte Reihe.

Als Ruhe einge­kehrt war, eröffnete der Vorsit­zende das Vormit­tags­pro­gramm, stellte Hirschberg, der neben ihm am Vorstands­tisch saß, vor und bat ihn, seinen Vortrag zu halten. Mehr und mehr merkte Hirschberg, dass er mit seinen Ausfüh­rungen nicht ankam. Der erste Teil war für seine Zuhörer vermutlich kalter Kaffee und den zweiten Teil hielt die Mehrheit wohl für abwegig. Er versuchte, sich dadurch zu retten, dass er vom Manuskript abwich und Passagen einflocht, die zum Reper­toire früherer Reden von ihm gehörten.

Aber das machte seinen Auftritt nicht besser. Er verlor den roten Faden, es wurde wider­sprüchlich und in seiner Rhetorik wirkte er zunehmend unsicher. Als er dann auch noch Probleme mit seiner Stimme bekam, ging er zum Schluss über, räumte ein, dass er das Thema weniger praktisch voraus­schauend anhand aktueller Trends aufge­griffen, sondern mehr aus einer gesell­schafts­po­li­ti­schen Perspektive heraus behandelt habe. Da Unter­nehmer jedoch von ihrem gesell­schaft­lichen Umfeld in der langfris­tigen Betrachtung abhängig seien, könne man Aspekte wie Genera­tio­nen­verbund, Ehe und Familie nicht außer Acht lassen. Er erhielt höflichen Beifall.

In der Diskussion kam es knüppeldick. Man könne die Unter­nehmer doch nicht für die Gebur­tenrate verant­wortlich machen. Die hohe Schei­dungsrate sei wohl kaum Folge des Wirtschafts­systems. Gerade die Unter­nehmen würden doch erst die Basis für materiell abgesi­cherte Familien schaffen. Außerdem, so wurde ihm vorge­halten, werde schon Erheb­liches zur Verein­barkeit von Familie und Beruf getan. Der Vorsit­zende schloss die Diskussion, sprach Hirschberg ein knappes Danke­schön aus und verab­schiedete ihn.

Auf der Heimfahrt stellte Katha nüchtern fest, zuerst habe er seine Zuhörer gelang­weilt und dann überfordert; schließlich habe er den Faden und dann auch noch die Stimme verloren. Sie versuchte, ihren Jo liebevoll zu trösten. Sie habe auch schon so manches Match durch Fehlein­schät­zungen verloren. Nach einer Weile lenkte sie in die Zukunft: „Wir werden ‚Familie‘ leben!“

Im Westerwald fuhr sie ab auf eine Autobahn­rast­stätte, sie wollten eine Kleinigkeit essen. Es wurde nicht viel geredet. Plötzlich nahm Katha Hirsch­bergs Hand in ihre und sagte: „Ich weiß jetzt, was ich werden will.“ Er sah sie erwar­tungsvoll an. Ihr Gesicht strahlte: „Famili­en­ma­na­gerin!“ „Und wo willst du das studieren?“ „Ich brauche das nicht zu studieren, ich kann das.“ „Aber wie sollen das deine Kunden wissen?“ „Ich werde keine Kunden haben, sondern Familie!“

In der Umzäunung des Rastplatzes war ein offen stehendes Tor, durch das ein Weg in den umgebenden Wald führte. Durch dieses Tor gingen sie und machten einen Spaziergang, auf dem sie Kathas künftigen Beruf ausmalten – sie würden mehrere Kinder haben.

Hirschberg, der wieder lächeln konnte: „Über Jahrtau­sende nannte man deinen künftigen Beruf ‚Mutter‘.“ „Das werde ich sein!“

Nach ihrer Ankunft zuhause setzten sie sich mit ihren Termin­ka­lendern zusammen und stimmten die Tages­ab­läufe bis zum nächsten Sonntag aufein­ander ab. Zu der einen oder anderen Aktivität gab es Fragen. So kamen sie darauf, dass sie eigentlich noch gar nicht allzu viel darüber wussten, was der andere wirklich tat. Sie nannten sich auch künftige Termine, die jetzt schon feststanden. Darunter war ein Kompakt-Seminar zur Verbes­serung von Kommu­ni­ka­ti­ons­ver­halten, das Hirschberg im nächsten Monat für Mitar­beiter zweier Firmen zu halten hatte. Katha äußerte Interesse, daran teilzu­nehmen. Er sagte ihr zu, das mit den beiden Firmen zu regeln.

Wenige Tage später besprachen sie ihre standes­amt­liche Hochzeit. Hirschberg hatte sowohl seinen Freund Berger als auch Frau Schneider erreicht. Beide hätten sich geehrt gefühlt, berichtete er Katha. Doch vorher würden sie gerne die Braut kennen­lernen. Er schlage vor, Berger und die Schneider zu einem Abend­essen einzu­laden. Aber nicht in ein Restaurant, sondern hierher zu sich nach Hause. Das wäre sozusagen ihr erstes gemein­sames Hausar­beits­projekt. Er hoffe, das sei ihr so recht. „Dann haben wir ja einiges vorzu­be­reiten“, meinte sie.

Der Abend mit Berger und der Schneider wurde nicht nur als erstes gemein­sames ‚Küchen­projekt‘ ein voller Erfolg, sondern war auch recht unter­haltsam. Es begann damit, dass beide Gäste Hirschberg Kompli­mente zu seiner Brautwahl machten. Und natürlich konnte die Schneider sich nicht verkneifen, ironisch zu fragen, wie er denn glaube, diese hübsche junge Frau zufrieden stellen zu können.

Hirschberg: „Ich habe etwas, was kein junger Mann ihr bieten kann: Lebenserfahrung.“

Die Schneider: „Die habe ich auch. Aber meinen Sie, deshalb würde sich auch nur ein junger Mann für mich interessieren?“

Hirschberg: „Die wissen alle nicht, was ihnen entgeht.“

Die Schneider: „Das ist wahr. Aber was soll ich machen? Zum Glück habe ich ja noch, bezie­hungs­weise wieder meinen Mann. Der hat sich zur Ruhe gesetzt, aber ist noch nicht zur Ruhe gekommen. Jetzt leben wir abwech­selnd einige Wochen auf Mallorca und in Köln.“

Berger: „In Mallorca machen Sie aber auch etwas mit Immobilien. Ich meine, etwas in der Richtung gehört zu haben.“

Die Schneider: „Hat sich das schon herum­ge­sprochen? Ja, das hat sich so angeboten. Wenn Sie ein Leben lang in dem Geschäft waren, kann man es nicht so einfach lassen. Mein Mann braucht das. Sonst fällt dem die Decke auf den Kopf. Seinem Sohn, der unser Unter­nehmen jetzt vollständig übernommen hat, will er nicht reinpfu­schen. Also hat er sich auf der Insel ein Betäti­gungsfeld geschaffen.“

Hirschberg: „Arbeiten Sie da mit?“

Die Schneider: „Hin und wieder, wenn mein alters­er­fah­rener Charme bei den Kunden von Vorteil sein könnte.“ Sie lachte hell auf und sah dabei Katha an.

Katha: „Gibt es auf Mallorca denn überhaupt noch Objekte, die ein Normal-Sterb­licher bezahlen kann?“

Die Schneider: „Das ist ja gerade das Schöne am Mallorca-Geschäft: Sie haben nicht mit Normal-Sterb­lichen zu tun, sondern mit Leuten, die jeden Preis zahlen, wenn sie etwas wollen.“

Hirschberg: „Und da gibt es Beamte, die so gut wie jeden Bauplatz geneh­migen, wenn es einem Geldprotz gefällt, sich mit seinem Bau mitten in die schönste Landschaft zu pflanzen.“

Die Schneider: „Das ist jetzt nicht mehr so leicht möglich. Die Gesetze sind verschärft worden.“

Hirschberg: „Wenn sie denn auch angewendet werden! Ich habe Bauten an Stellen gesehen, da tut es einem leid, dass man kein Dynamit dabei hat.“

Berger: „Ich mache einen Vorschlag: Wir kaufen uns ein altes Kanonenboot und berei­nigen die schlimmsten Bausünden vom Wasser aus.“

Die Schneider: „Da haben Sie aber einiges zu tun.“

Hirschberg: „Mallorca würde dabei gewinnen.“

Berger zu Hirschberg: „Wann wollt ihr denn mal wieder auf die Insel?“

Hirschberg: „Zur Zeit haben wir eine Menge zu erledigen.“

Berger: „Wollt ihr denn keine Flitter­wochen machen?“

Hirschberg: „Auf die Idee sind wir noch gar nicht gekommen.“

Die Schneider zu Katha: „Sehen Sie, junge Frau! Das haben Sie bei einem solch älteren Herrn, der kommt nicht einmal auf die Idee – und Sie warten insgeheim darauf, dass er sie ins Paradies entführt.“

Katha: „Ehrlich gesagt, ich habe auch noch nicht daran gedacht. Aber ich glaube, mir könnte die Idee gefallen. Zumal wir uns auf Mallorca kennen­ge­lernt haben.“

Jetzt wollte die Schneider die Entste­hungs­ge­schichte der Ehe wissen, die sie in einigen Tagen auf dem Standesamt bezeugen sollte. Hirschberg erzählte: „Als ich das letzte Mal in Palma war, habe ich mich auf dem Maritimo in ein Straßencafé gesetzt. Plötzlich hatte ich diese junge Frau neben mir sitzen. Ich dachte, hoppla, geht das heute so herum – und ich fühlte mich wie ein Dreißig­jäh­riger. Doch es stellte sich heraus, dass sie nur zu mir geflüchtet war, weil ihr ein fremder junger Mann, der ihr äußerst unsym­pa­thisch war, nachstellte.“

Die Schneider: „Hirschberg als Schutz­patron! Das haben Sie dann schamlos ausge­nutzt, um sich selber ins Spiel zu bringen.“

Hirschberg: „Wir kamen ins Gespräch. Und haben einen Ausflug gemacht. Die Bekannt­schaft mit Katha war für mich nach dem Ausflug eigentlich zu Ende. Aber die junge Frau konnte nicht von mir lassen und hat mich in Mehlem ausfindig gemacht und auf meinen Anruf­be­ant­worter gesprochen. Wir haben uns dann in Köln getroffen. Später hat sie mich mit ihrem Freund in meinem Wochen­endhaus in der Eifel besucht. Irgendwie war sie anhänglich, und ich – ich muss es zugeben – fühlte mich geschmei­chelt. So ganz abständig und unattraktiv für junge Leute war ich offenbar noch nicht. Mit ihrem Freund ist sie einige Zeit später nicht mehr klar gekommen. Da sie in Bonn studierte, hat sie bei mir erneut Unter­schlupf gesucht.“

Berger: „Du bist aber nicht der Grund gewesen, aus dem sie mit ihrem Freund Schluss gemacht hat?“

Katha griff ein: „Nein, das war er nicht. Aber er hatte mir ja schon einmal Schutz geboten, dieser verständ­nis­volle ältere Herr.“

Die Schneider zu Katha: „Da ihr mich ja jetzt mit eurem Ansinnen zum Komplizen macht: Warum wollen Sie denn den Herrn Hirschberg, diesen alten Knacker, heiraten? Ich schätze den zwar, aber deshalb würde ich den noch längst nicht heiraten.“

Katha: „Das habe ich mir reiflich überlegt. Zumal meine Mutter und er mich davon abhalten wollten. Ich heirate ihn, weil ich in meiner Generation keinen passenden Mann gefunden habe.“

Berger: „Was erwarten Sie denn von einem Mann?“

Katha: „Dass er lebens­tüchtig ist, weiß, was er will, seiner selbst sicher ist. Aber zuallererst: dass er lieben kann, nicht nur sich selbst.“

Die Schneider zu Katha: „Darf ich ‚Du‘ sagen?“ Katha nickte zustimmend. „Glaubst du denn nicht, dass du auch mit einem Partner deines Alters Orien­tierung und Lebens­si­cherheit hättest finden können?“

Katha: „Vielleicht. Aber ich habe keinen getroffen.“

Berger: „In unserer Firma beobachte ich, dass die jungen gut ausge­bil­deten Frauen weitaus mehr Verhal­tens­sta­bi­lität zeigen als die jungen Männer. Außerdem fällt mir auf, dass die jungen Männer mit der Selbst­ver­ständ­lichkeit, mit der ihre Kolle­ginnen ihre Gleich­be­handlung einfordern, nicht klar kommen.“

Hirschberg: „Jetzt kommen wir der Sache näher. Uns steht ein Jahrhundert der Frau bevor. Und die jungen Männer spüren das. Die Mädchen sind in der Schule besser, sie machen die besseren Studi­en­ab­schlüsse, sie drängen in alle Berufe und Karrie­re­stufen. Da ist es doch völlig verständlich, dass die Männer unsicher werden, um ihre Positionen und Karrieren fürchten, die Ellen­bogen ausfahren, den Macho heraus­kehren, Existenz­angst bekommen, Amok laufen – oder unter Mutters Rockschöße zurück wollen.“

Die Schneider: „Verstehe ich richtig: Die Männer werden mit der Emanzi­pation der Frauen nicht fertig?“

Hirschberg: „Könnte man so sagen. Deshalb fliegen ja viele von ihnen beispiels­weise nach Thailand oder auf die Philip­pinen und suchen dort eine gefügige Frau für sich.“

Die Schneider: „Ach du meine Güte!“

Berger zur Schneider: „Dann ist doch auch klar, warum Sie kein junger Mann umschwärmt.“

Die Schneider zu Berger: „Diese Aufklärung hätten Sie sich sparen können.“

Hirschberg zur Schneider: „Außerdem wünschen sich diese nach Fernost reisenden Männer von ihren fügsamen Frauen nicht nur Fürsorge, sondern auch noch süße kleine Kinderchen.“

Die Schneider: „Ihr beiden Männer seid wirklich nett zu mir. Jetzt sehe ich auch den Unter­schied zwischen mir und dem Herrn Hirschberg: Der kann jetzt noch einmal Vater werden. Vielleicht ist er es ja schon?“

Bei ihren letzten Worten sah sie Katha an. Die zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht.“

Die Schneider: „Aber du stammst nicht aus dem Fernen Osten, sondern aus Deutschland?“

Katha: „Aus Essen. Und in der Schule war ich besser als die Jungs.“

Die Schneider: „Und du heiratest den Hirschberg, weil der noch nicht von der anbre­chenden Frauen­power dieses Jahrhun­derts sich hat neuro­ti­sieren lassen.“

Katha: „Bastionen schleifen kann man erst, wenn man sie einge­nommen hat.“

Die Schneider: „Da war ich mit meinen Bemühungen, Bastionen zu schleifen, wohl etwas zu früh dran. Aber immerhin: Jetzt seid ihr Männer sturmreif.“

Berger verab­schiedete sich mit der Begründung, er müsse seine Frau vom Spanischkurs abholen. Frau Schneider blieb auch nicht mehr lange. An der Haustür betonte sie noch einmal, die Rolle der Trauzeugin gerne zu übernehmen.

Sofort am nächsten Tag regelte Hirschberg alles Erfor­der­liche mit dem Standesamt und gab Berger und der Schneider den Termin durch. Er fügte hinzu, dass die Ehepartner selbst­ver­ständlich herzlich einge­laden seien, ebenfalls der Zeremonie beizu­wohnen. Anschließend an den ‚Staatsakt‘ würden Katha und er noch zu einem Umtrunk in der Bonner Altstadt bitten.

Der ‚Staatsakt‘ verlief heiter, kurz und bündig. Der berufs­mäßig freund­liche Beamte empfing die Braut­leute, das Ehepaar Berger und das Ehepaar Schneider. Er stellte die Perso­nalien der Akteure fest, stellte die Möglich­keiten des Namens­rechts dar, nahm die Entschei­dungen des künftigen Ehepaars zur Kenntnis, las die entspre­chenden Texte vor, fragte die Zustimmung ab, sammelte die Unter­schriften ein und fügte seine Unter­schrift mit Amtssiegel hinzu. Er beglück­wünschte das nunmehr gesetz­mäßig verhei­ratete Paar, schloss ein paar salbungs­volle Sätze an und verab­schiedete die kleine Gesell­schaft. Draußen vor dem Eingang machte Berger einige Fotos. Die Schneiders hatten Katha einen Strauß roter Rosen überreicht.

Beim Umtrunk warf Frau Berger die Frage auf, ob sich das Standesamt nicht überlebt habe, wie so vieles andere auch. Herr Schneider meinte, der Trauschein habe nur noch steuer­liche Bedeutung. Hirschberg sagte, die Urkunde stehe wohl doch in einem größeren recht­lichen Zusam­menhang, beispiels­weise wenn aus der Ehe Kinder hervor­gingen. Die Schneider fragte Katha, warum sie ihren Namen aufge­geben habe. Katha antwortete, sie mache ihre Identität nicht an ihrem Mädchen­namen fest und sie brauche ihn auch nicht, um damit ihre Emanzi­pation zu signalisieren.

Das Gespräch kam auf Homo-Ehen. Einheit­liche Meinung war, dass man Partner­schaften jeder Art sollte eingehen dürfen. Konse­quen­ter­weise wären alle Privi­legien für bestimmte partner­schaft­liche Bezie­hungen abzuschaffen. Partner­schaft sei lediglich privat­rechtlich beim Notar zu regeln. Der mache sowieso die Eheverträge.

Bei der Verab­schiedung wieder­holten die Bergers ihr Angebot an die Hirsch­bergs, jederzeit die Ferien­wohnung in Santa Ponça nutzen zu können. Die Schneider, die das mithörte, schloss sich an mit der Einladung zu ihr nach Puerto Andratx.

Die Hirsch­bergs beschlossen, zum Mittag­essen ins Redüttchen zu fahren. Sie kamen erneut darauf zu sprechen, wie die Alltäg­lich­keiten zu regeln seien. Er sagte, es sei vielleicht blöde, immer wieder darauf zurück zu kommen, aber es seien eben die banalen Dinge des gemein­samen Lebens, die oft zu Streit führten. Unacht­samkeit, Nachläs­sigkeit, Bequem­lichkeit und andere Schwächen würden schnell als Lieblo­sigkeit inter­pre­tiert und schon sei der Krach da. Vorwürfe, Gegen­vor­würfe, Abstreiten, Leugnen; der eine werde laut, der andere verkrieche sich, Haare würden gespalten, man bekriege sich und versöhne sich wieder – bis ‚es nicht mehr geht‘, wie ihm eine Nachbarin gesagt hätte, als sie die Scheidung einge­reicht hatte. Das alles wolle er vermeiden, und deshalb müssten sie auch über die Banali­täten des Alltags, die vielleicht lästigen Dinge reden.

Sie wandte ein, dass es auch Dinge und Situa­tionen gäbe, wo Schweigen eher angebracht sei. Sie einigten sich, dass Schweigen nur dann infrage käme, wenn weiteres Reden bedeuten würde, Öl ins Feuer zu gießen, oder der Zeitpunkt für eine Aussprache nicht der richtige sei. Aber: Wenn einer von ihnen lieber schweigen wolle, dann solle er das sagen und dem anderen die Gewissheit geben, dass die Liebe zuein­ander nicht getrübt sei.

Noch ein anderes Thema kam zur Sprache: Kochen. Er hatte unter der Anleitung von Frau Michalski mehrere Gerichte kochen gelernt, beispiels­weise Nudeln mit Pilz-Sahne-Sauce oder mit Ei und Schinken in der Pfanne überbacken. Sie dagegen ernährte sich mangels Zeit und eigener Küche fast nur mit Fastfood, ließ sich gelegentlich von ihrer Mutter bekochen oder ging mit Kollegen oder Kunden des Tennis­zen­trums ins Restaurant. Sie verein­barten, bei ihrer Termin­ab­stimmung gemeinsame Koch- und Essens­termine einzu­planen. So machten sie ihr Verliebtsein alltagstauglich.

Hirschberg war dennoch unsicher, ob Katha es mochte, dass er wiederholt und vielleicht auch zu unpas­senden Zeiten auf solche Themen des Alltags zurückkam, die bei der Rollen­ver­teilung vergan­gener Zeiten außer Frage standen. Er sagte ihr das und war beruhigt, dass sie kein Problem damit hatte. Sie entschul­digte sich sogar, dass sie von Haushalt keine Ahnung habe, aber die Dinge würden sich ja nicht von alleine tun. Und wenn er bereit sei, den Haushalt mit ihr gemeinsam zu machen, rechne sie ihm das hoch an. Schließlich sei er es aus seiner ersten Ehe anders gewöhnt. Bevor das erste Kind komme, wolle sie jeden­falls so viel können, dass sie weder verhungern noch im Dreck verkommen würden.

Die beiden ließen den Tag zuhause auf der Terrasse bei einem Glas Wein ausklingen. Seit Jahren hatte Hirschberg die Terrasse nicht mehr benutzt. Jetzt stellte er fest, wie schön man doch hier saß – und ihm kamen Gedanken an vergangene Zeiten, in denen er hier und im Garten mit seinen noch kleinen Kindern ausge­lassen spielte. Er hob sein Glas und prostete Katha zu: „Frau Hirschberg!“ „Daran muss ich mich jetzt erst gewöhnen, vor allem am Telefon.“ „Ich werde das in den nächsten Tagen, wenn ich unterwegs bin, testen.“

Hinten im Garten stand in einer lauschigen Ecke, seit ewigen Zeiten nicht mehr benutzt, eine Sitz-Schaukel, mit einer Schutz­folie abgedeckt. Katha deutete auf sie und fragte: „Ist die noch funkti­ons­fähig? Ich meine, kann man sich noch hinein­setzen?“ „Probieren wir es doch aus!“ Sie gingen hinüber, zogen die Folie runter und setzten sich vorsichtig hinein. Das Ding hielt, auch bei leichtem Schaukeln. „Ich hole die Sitzpolster aus dem Keller“, sagte er. „Nicht nötig, wir nehmen die Kissen von den Terras­sen­stühlen.“ Sie holte die Kissen.

Hirschberg legte den Arm um ihre Schultern. Sie blickten zum Drachenfels hoch, tranken aus ihren Weingläsern. Beide ließen in Gedanken den Tag nochmal Revue passieren. Sie war zufrieden und glücklich. Sie fühlte sich wie in einem Hafen. Man sprach ja auch vom Ehehafen, dachte sie. Aus diesem Hafen heraus würde sie nun in ihr Leben hinaus fahren, begleitet von einem schon erprobten Skipper. Er fühlte sich wohl wie lange nicht mehr. Er war nicht mehr allein. Eine tüchtige Gefährtin hatte sich ihm zugesellt. Mit ihr bekam er neue Kraft, würde er zu neuen Ufern aufbrechen.

Ehealltag

… auch kirchlich heiraten … die Geschichte der Rut … eine neue Atmosphäre
… zeitweise eingeengt … die Reibungsflächen klein halten

Während sie so ihren Gedanken nachhingen, war es dunkel geworden, waren oben auf dem Drachenfels die Lichter angegangen. Plötzlich drehte sie sich zu ihm und fragte: „Wir haben bisher noch gar nicht darüber gesprochen, ob wir auch kirchlich heiraten wollen.“ „Willst du?“ „Ich weiß nicht. So ein Braut­kleid würde mir sicher gut stehen.“ „Das Kostüm heute hat dir auch wunderbar gestanden.“ „Wir sind doch beide katho­lisch?“ „Wann warst du das letzte Mal in der Kirche?“

„Das ist schon Jahre her. Als ich nach der Pubertät die Pille eine Zeit lang genommen habe, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Da bin ich nicht mehr gegangen. Meine Eltern sind nicht religiös.“ „Ich gehe nur hin und wieder in die Kirche. Wenn unser Pfarrer, unser Kardinal, die in Rom – na ja, ich will nicht kriti­sieren.“ „Wann hast du das letzte Mal in der Bibel gelesen?“ „Das tue ich öfter. Sie liegt in meiner Nacht­tisch-Schublade. Wenn ich auf Reisen eine Bibel in meinem Hotel­zimmer finde, lese ich immer darin.“ „Ich habe schon lange keine mehr in der Hand gehabt.“ „Meiner verstor­benen Frau habe ich in den ersten Jahren unserer Ehe jeden Abend im Bett aus der Bibel vorge­lesen.“ „Das finde ich schön. Liest du mir auch vor?“ „Gerne.“ „Heute Abend?“ „Mach ich.“

Sie gingen ins Haus und zu Bett. Katha legte ihren Kopf auf seine Schulter und er las ihr die Geschichte der Rut aus dem Alten Testament vor.

In den folgenden Wochen breitete sich in Hirsch­bergs Haus eine neue Atmosphäre aus. Das wurde in allen Räumen wahrnehmbar. In der Küche stand jetzt immer eine Schale mit frischem Obst. Auf der Anrichte stand nicht nur wie früher eine Teekanne, sondern daneben stand eine Kaffee­kanne. Im Kühlschrank war nicht nur Margarine, sondern auch Butter zu finden. Im Spülbecken war fast immer schmut­ziges Geschirr abgestellt. Den Esstisch im Wohnzimmer zierte eine Vase mit Blumen. Auf dem Couch­tisch lagen Bücher und Illustrierte.

Katha zog nunmehr endgültig in Hirsch­bergs Büro ein. Sie richtete sich ihren Arbeits­platz nach ihren eigenen Vorstel­lungen ein. Neben das Telefon stellte sie einen kleinen Pokal, die Trophäe ihres ersten Turnier­sieges. Damals war sie 12 Jahre alt. Ihr Termin­planer lag da, aufge­schlagen die Seite des aktuellen Datums. Ein Notiz­block. Schrift­stücke in Klarsicht­hüllen, die Hirschberg ihr zu lesen gegeben hatte. Und auch hier eine Vase mit Blumen.

In Schlaf­zimmer und Bad zeigte sich ebenfalls, dass neue Zeiten angebrochen waren. Am Kleider­schrank hing ein Kostüm. Im Schrank weitere Kostüme, Röcke, Blusen, Hosen, T‑Shirts, Trainings­anzüge, Gürtel, Mäntel, Anoraks – für Hirschberg war kaum noch Platz. Auf dem Boden herum lagen Tennis­schuhe, Tennis­socken, Jogging­schuhe. Unterm Fenster stand ihre Sport­tasche, die er schon von Mallorca her kannte. Im Bad: ein Föhn, Locken­wickler, Spray­dosen, Tuben, Fläschchen, Kosme­tik­töpfe aller Art.

Im ganzen Haus ein neuer, angenehmer Geruch. Hirschberg meinte, es dufte überall nach Jasmin. Auch war jetzt viel öfter Musik zu hören. Aber nicht unbedingt Musik, die in seine Ohren passte. Weder die Titel noch die Sänger sagten ihm etwas. Er ertrug es. Er war nicht mehr allein. Zum Zusam­men­leben gehört Toleranz. Dennoch: Er fühlte sich zeitweise unangenehm eingeengt.

Aus Mettmann brachte sie nach und nach noch Sachen mit, die sie dort deponiert hatte. Auszeich­nungen, Geschenke, Tennis­schläger. Im Keller war noch Platz. Hirschberg staunte: Was diese junge Frau schon alles angesammelt hatte!

Katha lebte auf. Endlich hatte sie ein Zuhause, in dem sie sich ausbreiten und eine Atmosphäre schaffen konnte, die ihren Vorstel­lungen und Gefühlen entsprach. Heiter, froh und praktisch sollte es sein, lebendig. Terrasse und Garten wollte sie einbe­ziehen. Als Kind hatte sie eine Zeitlang botani­siert und auf dem Balkon Topfpflanzen gehabt. Sie hatte als Teenager sogar einmal überlegt, Biologie zu studieren. Doch sie hatte keine Gelegenheit gefunden, ihre Neigung zur Natur zu vertiefen. Jetzt würde sie zumindest Garten­arbeit machen.

Hirschberg gab zu allem seine begeis­terte Zustimmung. Das war der frische Wind, den er sich so gewünscht hatte.

In ihrem Zusam­men­leben traten indes auch Reibungs­flächen zu Tage. Wie hätte es anders sein können! Zwei Personen mit völlig verschie­denem Lebenslauf, verschie­denen Gewohn­heiten, verschie­denen Ansichten, verschie­dener körper­licher Ausstattung, verschie­dener Lebens­ein­stellung. Das zeigte sich recht deutlich beim Essen. Während er magen­schonend und auf seine Chole­ste­rin­werte achtend weder Kaffee trank noch Butter schmierte, trank sie zum Frühstück schwarzen Kaffee und schmierte sie sich Butter auf ihre Brötchen. Sie liebte gewürztes Essen, während er Gewürze nur in Andeu­tungen vertrug. Er hatte sich angewöhnt, erst nach dem Essen etwas zu trinken, sie trank während des Essens und auch zwischen den Mahlzeiten. Auch aß sie zwischen­durch gerne Kleinig­keiten wie Schoko­riegel, Gummi­bärchen oder Erdnüsse. Teilweise waren diese Gewohn­heiten schon früher zu erkennen gewesen, etwa die Unter­schiede beim Frühstück, aber keiner von ihnen hatte das bisher so richtig wahrgenommen.

Jetzt beobach­teten sie sich gegen­seitig sehr aufmerksam. Beide hatten den Eindruck, sich jetzt erst kennen­zu­lernen. Dabei gingen sie sehr liebevoll mitein­ander um. Jeder war bemüht, dem anderen seine Eigen­heiten zu lassen, sie zu respek­tieren. Hirschberg fühlte sich gedrängt, seine Gewohn­heiten zu erklären. Sie sollte wissen, warum er es sich so angewöhnt hatte und auch nicht ändern wollte.

Sie begannen sich aufein­ander abzustimmen. Zuerst in der Küche. Er kochte, was er bei Frau Michalski gelernt hatte. Sie kaufte sich Kochbücher, sah Köchen im Fernsehen zu, schnitt sich Rezepte aus Frauen­zeit­schriften aus. Mit einfachen Gerichten begann sie eigene Wege zu gehen. Nicht alles gelang. Er sagte nichts. Aber sie merkte seine Zurück­haltung und tröstete ihn damit, dass es beim nächsten Mal besser gelingen werde. Wegkippen mussten sie nur selten etwas.

Nach und nach entwi­ckelte jeder seine Spezia­li­täten. Während sie sich mehr mit Fleisch­ge­richten beschäf­tigte, erwei­terte er seine Fertig­keiten im Zubereiten von Fisch. Sie widmete sich mehr dem Gemüse, er den Salaten. Sie erschloss sich Reisge­richte, er befasste sich damit, wie man aus Vollkornteig sowohl Süßes wie Crêpes oder Waffeln als auch einen Gemüse­auflauf, zum Beispiel mit Brokkoli, oder eine Pizza herstellen konnte.

Sie verstän­digten sich darauf, dass bei ihren Bemühungen in der Küche die Förderung der Gesundheit und der Fitness die gleiche Priorität wie der Wohlge­schmack haben sollten. Deshalb kauften sie sich auch schon bald einen Dampf­kochtopf. Eine besondere Heraus­for­derung war, die gemeinsame Arbeit so zu koordi­nieren, dass sie sich nicht gegen­seitig behin­derten, dass die Zeiten passten, also das Gemüse nicht zu früh fertig war oder das Fleisch schon wieder kalt wurde, weil der Salat noch in der Mache war.

Da Katha schneller zu Werke ging als er, waren auch die indivi­du­ellen Arbeits­zeiten zu berück­sich­tigen. Sie mussten viel Rücksicht aufein­ander nehmen, um sich nicht gegen­seitig zu entmu­tigen. Denn sie kamen sich immer wieder in die Quere oder waren unter­schied­licher Meinung, wie vorzu­gehen sei. Um die Reibungs­flächen klein zu halten, einigten sie sich darauf, dass derjenige als Küchenchef fungieren solle, der das Fleisch oder den Fisch zubereite.

Sie lernten: Kochen fängt mit dem Einkaufen an. Was man einkauft, hängt davon ab, was auf dem Speiseplan steht. Er wusste recht bald, in welchem Laden es was gab. Und auch, wo im Laden in welchem Regal was zu finden war. Entspre­chend schnell wollte er den jewei­ligen Einkauf erledigen. Sie dagegen sah sich die Waren genauer an, verglich Quali­täten und Preise zwischen den einzelnen Läden, brauchte dazu viel Zeit, um sich schließlich für das eine oder andere Produkt zu entscheiden. Ihr Interesse fanden auch Produkte, die gar nicht auf dem Einkaufs­zettel standen.

Ihn nervte dieses zeitauf­wendige Einkaufen. Aber er zwang sich zur Geduld. Er beobachtete andere Leute, andere Paare, wer bei denen das Sagen hatte, beobachtete das Personal bei seiner Arbeit, bot Katha an, das eine oder andere schon zu holen, schob, wenn sie sich schließlich entschieden hatte, den Einkaufs­wagen weiter, machte sich auf den Weg zur Kasse, während ihr das eine oder andere noch einfiel. Hirschberg stellte fest, dass sie regel­mäßig mehr als doppelt so viel Zeit als veran­schlagt für das Einkaufen und Kochen brauchten. Dadurch kämen bei ihm beruf­liche Aufgaben zu kurz, sagte er ihr. Aha, dachte sie, als Nächstes wird er wohl sagen, es sei besser, eine gewisse Arbeits­teilung vorzu­nehmen. Und dann war ja schon klar, dass er sich beim Einkaufen ausklinken werde, um Zeit für seine Arbeit zu gewinnen.

Doch so einfach machte er es sich nicht. Er zeigte sogar Verständnis dafür, dass sie anders vorging als er, und er hielt die Preis­ver­gleiche für gut – wann endlich kam das ‚Aber’, fragte sie sich. Doch es kam kein ‚Aber’, sondern der Vorschlag, jeder solle selbständig das einkaufen, was er für seine Rezepte brauche.

Hirschberg tat einen Seufzer und sagte: „Jetzt erst merken wir, was es heißt, einen gemein­samen Haushalt zu führen. Jeder für sich hat als Allein­ste­hender schnelle Methoden entwi­ckelt. Für dich war Ernährung etwas, das man nebenbei erledigt, für mich war es ein Minimal­pro­gramm, um nicht zu verhungern. Wir lernen gerade, wie man sich gemein­schaftlich ernährt. Das ist fast so, als würde man in einem Unter­nehmen eine neue Produk­ti­ons­straße einrichten.“

Das Thema ‚Einkaufen/Kochen’ war auch weiterhin Gesprächs­stoff. Schließlich kamen sie zu mehr oder weniger Arbeits­teilung. Je nach beruf­licher Termin­planung ordneten sie sich die Aufgaben als Einzel­tä­tigkeit zu. Samstags und sonntags indes, so verein­barten sie, sollte gemeinsam gekocht werden. Sie hatten die feste Absicht, von den Gewohn­heiten eines Single zu denen eines Gemein­schafts­men­schen zu gelangen und darauf zu achten, wann Einzel­arbeit und wann gemein­sames Arbeiten – wie er sagte – ‚zielführend‘ sei.

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