12.
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Erwachsen

… heftige Vorwürfe der Mutter … Verständnis für die Mutter … auf Dauer kein
Zustand … Boden unter die Füße bekommen

Katha lag wach in ihrem Bett. Es war noch früh am Morgen. Sie hatte nur wenig geschlafen, und nicht sehr erholsam. Denn sie war aufge­wühlt, aus ihrem Gleich­ge­wicht geraten. Grund war der Besuch ihrer Mutter. Mit ihr hatte sie einen furcht­baren Streit. Nicht einen Streit, der wie ein Gewitter vorüber­zieht und dann ist alles wieder gut. Nein, die Mutter hatte gedroht, sie nicht mehr sehen zu wollen, wenn sie die Beziehung zu Hirschberg nicht aufgäbe. Sie verschleudere ihre besten Jahre an einen Mann, der ihr Vater sein könne, der sie offenbar mit attrak­tiven Reisen wie der nach Rio an sich binden wolle, dem es offenbar gefalle, eine junge Frau an seiner Seite zu haben. Sie solle doch bitte ihren Verstand benutzen.

Voller Freude und Begeis­terung hatte Katha ihrer Mutter von der Rio-Reise erzählt und von dem tollen Mann, der Hirschberg sei, der sie verstehe, der klug und erfahren sei, bei dem sie sich wohl fühle. Daraus hatte ihre Mutter den Schluss gezogen, dass sie verliebt sei, dass sie diesen Mann wie ein puber­täres Mädchen anhimmele. Sie mache einen schlimmen Fehler und setze ihre Zukunft aufs Spiel, wenn sie sich nicht zurückzöge. Jetzt sofort. Sie solle ihre Sachen packen, einen kurzen eindeu­tigen Brief hinter­lassen, dass kein weiterer Kontakt erwünscht sei, und dann mit ihr das Haus verlassen, es nie wieder betreten.

So hatte Katha ihre Mutter noch nie erlebt. Sie fiel aus allen Wolken. Immer hatte ihre Mutter Verständnis gezeigt, wusste sie die Dinge zu erklären, wurde bei Problemen oder Meinungs­ver­schie­den­heiten eine gemeinsame Lösung gefunden. Aber gestern war sie autoritär, ließ sie sich auf keine Diskussion ein, gab es nur ihre Wahrheit. Die schlimmsten Folgen hatte sie aufge­zählt und ausgemalt. Und sie hatte am Ende die Alter­native aufge­stellt: „Du musst dich zwischen ihm und mir entscheiden.“

Katha dachte, es wäre wohl besser gewesen, sie hätte von den schwulen Männern in Rio ihrer Mutter nichts erzählt. Das hatte ihre Mutter sicher in den falschen Hals bekommen. Und einer der Schwulen war auch noch Hirsch­bergs Sohn. Mehrmals hatte sie versucht, der Mutter ihre Beziehung zu Hirschberg zu erklären, die Dinge zurecht zu rücken. Aber die Mutter ließ sie nicht zu Wort kommen, fuhr ihr sofort über den Mund. Anfänglich stellte sie noch die eine oder andere Frage wie die, ob sie sich etwa schon geküsst hätten, dann nur noch Unter­stel­lungen, düstere Prophe­zei­ungen und Appelle, sich nicht ins Unglück zu stürzen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Katha von ihrer Mutter unver­standen und verstoßen. Das war nicht ihre Mutter, sondern ein Todes­engel. Alles hatte sich in ihr zusam­men­ge­zogen, sie wurde stumm, hatte ihre Reakti­ons­fä­higkeit verloren, empfand die Mutter – was sie nie für möglich gehalten hätte – als eine Bedrohung. Und doch wollte sie diese Frau nicht verlieren, war in ihr das Bild der sie liebenden Mutter gegen­wärtig, das sich nach vorne drängte. Wenn sie den Blick von ihr abwandte und ihre Worte nur als fernes Donnern heranließ, dann stieg dieses Bild in ihr auf. Doch es verflüch­tigte sich bald wieder. Und sie fühlte ihre Lähmung.

Die Mutter drängte sie zum Handeln, zum Koffer­packen, zum Abhauen, wollte gar selber schon Kleider von ihr aus dem Schrank holen, meinte, den Brief könne sie auch in Essen schreiben und ihm zuschicken – doch da rührte sich letzte Kraft in Katha, sie sagte ganz ruhig: „Ich überlege es mir, geh jetzt – ich bleibe hier.“ Und als die Mutter sie entsetzt anblickte, schrie sie: „Geh!“ Wortlos verließ die Mutter das Haus.

Bis zu diesem nieder­schmet­ternden Gespräch war Katha in Hochstimmung gewesen. Nach ihrer Rückkehr aus Rio hatte sie immer wieder vor sich hin gesungen. Nur einmal hatte es eine Eintrübung gegeben. Ursächlich auch hierfür war ihre Mutter während eines Telefon­ge­sprächs: Wieso sie für die paar Tage so viel Geld habe ausgeben können. Am nächsten Morgen hatte Johannes aus Los Angeles angerufen. Leider konnte sie ihre getrübte Stimmung nicht ganz verbergen. Sie fragte sich, ob er es gemerkt habe. Das Geld für den langen Flug nach Rio – nein, das tat ihr nicht leid. Im Gegenteil. Eine neue Welt hatte sich aufgetan. Und es gab eine Person, mit der sie dort ihr bisher unbekannte Glücks­ge­fühle erlebt hatte. Wie klein und eng und einge­nebelt und kurzatmig ihr Lebensraum hier doch war.

Dort waren auf einmal ganz andere Reali­täten aufge­taucht, in denen sich die Menschen dieser herrlichen Stadt in heiterer und unbeschwerter Lebensart bewegten – im Rhythmus des Samba. Diese Menschen waren lebensfroh, auch wenn sie bei weitem nicht in einem Wohlstand lebten, der vergleichbar mit unserem war. Und wie viele Menschen waren hier, an ihren Mienen ablesbar, verbiestert und verbittert, obwohl sie auf einer der Wohlstands­inseln dieser Welt lebten!

All das ging Katha an diesem frühen Morgen durch den Kopf. Schließlich stand sie auf. Sie beschloss, das Seminar am Vormittag zu schwänzen und sich statt dessen in aller Gemüt­lichkeit ein ausgie­biges Frühstück zu geneh­migen. Dann würde sie ohne jede Hektik sich auf den Weg zum Düssel­dorfer Flughafen machen, um den Mann abzuholen, wegen dem ihre Mutter ihr die Hölle heiß gemacht hatte. Nein, sie würde sich nicht von ihm trennen. Sie wollte es nicht, und sie hatte das Gefühl, es auch gar nicht mehr zu können. Wie war es möglich, dass ihre Mutter sie vor diese schreck­liche Alter­native stellte? Sie war doch bisher so einfühlsam gewesen! Warum diese katego­rische Ablehnung eines Mannes, den sie noch nicht einmal gesehen hatte? Sie, Katha, sah in diesem Mann für sich Lebens­zu­kunft, während die Mutter – das war unaus­weichlich – Vergan­genheit werden würde.

Große Traurigkeit befiel sie. Das Bild der Freude ausstrah­lenden, klugen älteren Frau, die sich von der Mutter zur besten Freundin gewandelt hatte, bekam Flecken. Ihr Alter drückte sich hässlich in ihrem Gesicht aus, während Hirschberg, der ältere Mann, in Kathas Augen fast jungen­hafte Züge trug.

Katha war vorzeitig am Flughafen. Sie war ohne Verzö­ge­rungen durch den Verkehr gekommen. Das Flugzeug wurde dagegen als verspätet angekündigt. Na ja, bei einer so langen Strecke. Sie vertrieb sich die Zeit mit Journalen und Cappuccino. Auch angequatscht wurde sie, wie immer, wenn sie sich irgendwo in der Öffent­lichkeit allein niederließ. Endlich wurde die Landung der Maschine angezeigt. Sie wartete noch ein paar Minuten, dann versuchte sie, ihn auf dem Handy zu erreichen. Nichts. Nach einigen Minuten versuchte sie es erneut. Ja, er sei auf dem Weg zum Gepäckband, „bis gleich!“ Mit dem Moment, in dem sie seine Stimme hörte, begann ihr Herz zu hüpfen.

Die Zeit des Wartens war vorbei, alle Unsicherheit, ob er denn wirklich in der Maschine sei, war weg. Sie begab sich zu dem Ausgang, für den der Flug aus Los Angeles angekündigt war. Vorerst tat sich nichts. Dann kamen die ersten Leute mit ihren Gepäck­wagen heraus. Einige wurden von Angehö­rigen oder Freunden begrüßt, manche mit Blumen. Sie hatte nichts zur Begrüßung mitge­bracht. Hätte sie sollen? Nein, dachte sie, das war nicht sein Stil – und ihrer auch nicht. Sie wäre sich sonderbar vorge­kommen, hätte es als deplat­ziert empfunden. Sie versuchte, ihn zu erspähen. Und tatsächlich kam er in die Schleuse, winkte ihr zu, ein leichtes Kopfheben, das sagte: Gleich bin ich da.

Katha und Hirschberg hielten sich lange umarmt. Kein Wort fiel. Dann sahen sie sich an, wandten sich schließlich in Richtung Parkhaus. Er schob den Kofferkuli vor sich her, sie hängte sich in seinen Arm ein.

„Über dem Atlantik war ein Unwetter. Dem ist der Pilot ausge­wichen. Hast du lange warten müssen?“, fragte er.

„Ich habe gelesen.“

„War es spannend?“

„Ich konnte mich nicht so richtig konzentrieren.“

Sie war in Versu­chung, ihm gleich ihr Herz auszu­schütten, ihm von dem schlimmen Gespräch mit ihrer Mutter zu erzählen. Aber hier war weder der passende Ort noch der geeignete Zeitpunkt. Also schwieg sie. Er merkte, dass sie sich zurück­hielt. Da er nach dem langen Flug müde war, war es ihm recht. Zum Erzählen würden sie noch Zeit genug haben. Jetzt erst einmal nach Hause und ausschlafen. Am Auto angekommen, ließ er Katha mit einer Umarmung nochmal seine Zuneigung spüren. Während er das Gepäck einlud, stieg sie schon ein. So gelang es ihr, ihre feuchten Augen zu trocknen, ohne dass er etwas merkte.

Zuhause angekommen, aß Hirschberg noch ein wenig und zog sich zurück. Er schlief lange – Tiefschlaf, Träume, halbwach, wieder einge­schlafen, dahin dösend, bis in den späten Vormittag hinein. Katha hatte ihm einen Zettel mit der Nachricht hinter­lassen, dass sie am Nachmittag nach Hause käme. Er beschloss, sie zu einem Abend­essen ins Redüttchen einzu­laden. Dann könnten sie auf ihr Wieder­sehen anstoßen und sich alles erzählen. Vielleicht müsste man auch darüber reden, wie sie ihre Beziehung weiter­führen sollten.

Die beiden ließen es sich schmecken. Er erzählte der Reihe nach. Zuerst von den Tagen in Boston. Besonders ausführlich berichtete er von dem „Seminar“-Gespräch. „Mit was für Themen ihr euch beschäftigt habt!“, staunte Katha. Hirschberg stellte es als intel­lek­tuelle Spielerei dar, aber durchaus mit ernst­haftem Hinter­grund. Eine Renais­sance der Familie sei als eine Kultur­leistung der Gesell­schaft heute möglich. Aus einem Lebens­ver­ständnis heraus, in dem der Genera­tio­nen­verbund und nicht isoliertes indivi­du­elles Sichaus­leben Selbst­ver­ständ­lichkeit wäre. Es gäbe schon längst den Trend zum Leben in wieder größeren Gruppen. Wohnge­mein­schaften, Patch­work­fa­milien. Solche Gemein­schaften wüssten um die Vorteile der Gruppe, man nutze die Stärken des Miteinanders.

Wie die Hochzeit war, wollte Katha wissen. Er erzählte ausführlich. Die Predigt des Kardinals hob er besonders hervor und wieder­holte sie in ihren Kernaus­sagen. Seine Tischrede erwähnte er nur kurz, aber sie wollte es genauer wissen. Er sagte, dass es ihm vor allem um das gegen­seitige Erkennen gegangen sei. Das gefiel ihr. Sie hatte noch viele Fragen. Es wurde ein langer Abend. Am Ende wollte er von ihr wissen, wie es ihr denn nach der Rückkehr aus Rio ergangen sei. Am Telefon in L.A. habe sie nicht so freudig wie sonst geklungen. Dass er sie heute anfangs etwas einsilbig erlebte, erwähnte er nicht. Sie sagte, dass sie nach Rio wie auf einer Wolke schwebte. Doch habe sie ihre Mutter da brutal runter geholt. Sehr brutal.

„Und warum?“

„Weil sie gegen unsere Beziehung ist.“

„Sie kennt mich doch gar nicht.“

„Ich habe, nichts Böses ahnend, von den tollen Tagen in Rio erzählt. Sie hat sich das angehört. Und danach ist sie über mich herge­fallen. Sie wollte, dass ich meine Sachen packe und mit ihr nach Hause fahre. Aber ich bin hier!“

Sie sah ihn traurig an. Fragende Augen.

Er war ganz ernst geworden. Der Mund wurde schmal, er kniff die Augen zusammen. Vor sich hin: „Ich kann deine Mutter verstehen. Es ist sehr schade.“ Er drehte den Kopf zu ihr: „Hätten wir, hätte ich vernünf­tiger sein sollen?“

„Was heißt hier vernünftig? Dein Sohn wollte vernünftig leben – und war damit lange unglücklich. Jetzt ist er glücklich – aber meine Mutter hält ihn für abartig. Leider habe ich über ihn erzählt.“

„Da kann sie doch gar nicht anders, als mich, den Vater, auch für abartig halten.“

„Sie hält dich für gefährlich, für mein Unglück. Da hilft nur noch die Notbremse.“

„Aber die hast du nicht gezogen.“

„Nein.“

„Und wie soll es mit uns weitergehen?“

„Ich will dich nicht verlieren.“

„Du willst in dein Unglück rennen?“

„Lass das!“

„Ich will dich auch nicht verlieren. Das aber ist wohl sehr egois­tisch empfunden. Und so, wie wir derzeit unter einem Dach leben, ist das sicher kein Zustand, den man auf Dauer in der Schwebe halten kann. Deshalb sollten wir in den kommenden Wochen überlegen – zunächst jeder für sich allein – was wir persönlich für uns in unserem weiteren Lebens­verlauf erreichen wollen. Dann sehen wir, ob da eine gemeinsame Zukunft drin ist. Einverstanden?“

„Ich muss erst wieder Boden unter die Füße bekommen.“

„Ich bin auch noch gar nicht wieder richtig hier.“

„Dann lass uns doch einfach lieb zuein­ander sein, so wie es uns froh macht.“

„Das machen wir.“

Am nächsten Vormittag stürzte sich Hirschberg in die Arbeit. Am Nachmittag hatte er klar Schiff. Er plante die nächsten Tage. Wichtigster Termin war der Besuch bei dem Kunden, der in seiner Abwesenheit die Mitar­bei­ter­be­fragung durch­führen sollte. Der Unter­nehmer hatte ihm am Telefon gesagt, die Voraus­set­zungen für seine Beratung hätten sich in der Zwischenzeit verändert. Darüber müssten sie dringend reden. Hirschberg bot ein sofor­tiges Gespräch noch am Nachmittag bei sich im Büro an.

Bei dem Gespräch kam heraus, dass die Voraus­set­zungen sich nicht nur geändert hatten, sondern wegge­fallen waren. Denn das Unter­nehmen stand kurz vor dem Verkauf an einen ameri­ka­ni­schen Konzern. Man verblieb so, dass Hirschberg für die noch nicht honorierten Leistungen eine Rechnung schicken solle. Bei einem der nächsten Gespräche mit den Ameri­kanern – so wurde ihm in Aussicht gestellt – werde er hinzu­ge­zogen, um festzu­stellen, ob er seine Arbeit in irgend­einer Form fortführen könne. Er hielt das für ein Abschieds­bonbon, um sich versöhnlich davon zu machen.

Während des Gesprächs war das Telefon stumm auf den Anruf­be­ant­worter gestellt. Als er nachsah, fand er unter anderem eine Nachricht von Mutter Dohmen vor. Sie bat um Rückruf, da sie dringend mit ihm zu sprechen habe. Er zögerte nicht, sondern rief sofort an. Ob sie nach Mehlem kommen wolle? Nein, er möge nach Essen kommen. Wenn ihm das nicht recht sei, könne man sich auch in Düsseldorf, von ihr aus auch in Köln treffen. Sie verab­re­deten sich im Kölner Domhotel. Beide telefo­nierten wie Geschäfts­leute mitein­ander, die keinerlei Gefühls­regung erkennen lassen. Zwei ältere Menschen, die sich beherr­schen konnten.

Mutter Dohmen

… Hirschbergs Gespräch mit der Mutter … verdrehen ihr den Kopf … stürzen
sie ins Unglück … müssen sie loslassen … sie muss selbst entscheiden

Drei Tage später saß Hirschberg in einer etwas abseits gelegenen Ecke im Foyer des Domhotels. An der Rezeption hatte er hinter­lassen, dass er eine Frau Dohmen erwarte. Der Kellner brachte ihm den bestellten Orangensaft. Er las in der mitge­brachten Zeitung. Auf der Autofahrt nach Köln hatte er sich überlegt, wie er sich am besten verhielte: zuhören, Verständnis äußern, relati­vieren, infrage stellen, keine Front aufbauen. Der Kellner kam, ihm folgte eine ältere Dame, groß gewachsen, stattlich, elegant gekleidet, dunkle Augen.

Hirschberg erhob sich, bedeutete dem Kellner mit einer Kopfbe­wegung, noch ehe der etwas sagen konnte, dass er im Moment nicht weiter gebraucht werde, und ging mit ausge­streckter Hand auf Mutter Dohmen zu: „Frau Dohmen, ich begrüße Sie.“ Sie, steif und zurück­haltend, die Hand nur kurz und ausdruckslos ergreifend, aber mit fester Stimme: „Guten Tag, Herr Hirschberg.“ Er: „Wo möchten Sie sitzen?“ Sie sah sich um und setzte sich über Eck in den Sessel an der Stirn­seite des Couch­ti­sches. Ihre Handtasche stellte sie ab, schlug die Beine übereinander.

Er hatte sich wieder auf seinen vorhe­rigen Platz gesetzt und faltete seine Zeitung, legte sie neben sich ab. Wie ein Gastgeber: „Was darf ich für Sie bestellen?“ Sie reagierte wie jemand, der nicht abgelenkt werden möchte: „Ach ja, ich trinke ein Kännchen Kaffee.“ Hirschberg, der den Blick ins Foyer hatte, sah nach dem Kellner, der aber zur Zeit nicht in der Nähe war. Er fragte sie: „Hatten Sie eine gute Fahrt?“ – „Problemlos.“ Er sah den Kellner, aber der sah nicht zu ihnen rüber; er servierte gerade Kuchen. Hirschberg zu ihr: „Es gibt hier leckeren Kuchen. Wollen Sie nicht ein Stück?“ – „Nein, danke.“ – „Aber ich darf mir ein Stück gönnen?“ – „Selbst­ver­ständlich.“

Der Kellner war wieder in Sicht­weite. Da er aber auch jetzt nicht herüber­blickte, rief Hirschberg laut: „Herr Ober!“ Er kam zu ihnen: „Bitte?“ – „Für die Dame bitte ein Kännchen Kaffee…“, zu ihr nachfragend: „Mit Milch und Zucker?“, sie nickte, er wieder zum Ober: „Mit Milch und Zucker, und für mich bitte ein Stück Käsekuchen und eine Tasse Kaffee mit viel Milch und Zucker.“

Der Kellner verschwand. Hirschberg lehnte sich zurück. Sie saß aufrecht, ohne sich anzulehnen. Sie hatte Hirschberg aufmerksam beobachtet, während er die Bestellung aufgab. Er blickte sie freundlich und offen an und sagte:

„Sie wollten mit mir sprechen?“

„Ich muss mit Ihnen sprechen. Noch ist es ja vielleicht nicht zu spät.“

„Zu spät? Wozu?“

„Dass Katha von Ihnen wieder los kommt.“

„Ich halte sie nicht gefangen.“

„Sie wissen, was ich meine.“

„Nein. Erzählen Sie!“

„Katha hat sich in Sie verliebt, und das kann nur ins Unglück führen. Das dürfte auch Ihnen klar sein. Aber Sie lassen es zu, fördern es sogar, rauben ihr die Möglichkeit, Kontakte unter ihres gleichen zu knüpfen. Mehr noch: Sie verdrehen ihr den Kopf, bringen sie zu solchem Unsinn wie der Reise nach Rio. Wahrscheinlich schmei­chelt es Ihnen, sie an Ihrer Seite zu haben.“

„Warum ist es für Sie ein Unglück, dass Katha und ich – dass wir uns mögen?“

„Wollen Sie sagen, dass Sie Katha lieben?“

Hirschberg blickte sie freundlich an: „Ja, ich habe Ihre Tochter gern. Sie ist ein großar­tiger Mensch.“

„Das ist sie. Und wenn Sie sie wirklich lieben, dann trennen Sie sich von ihr! Sonst handeln Sie unverantwortlich.“

„Ich bin nicht auf Katha zugegangen. Und mehr als ihr väter­licher Freund zu sein, ist mir nicht in den Sinn gekommen.“

„Aber Sie haben doch merken müssen, dass sie mehr in Ihnen sieht. Sie ist eine junge Frau, die ihre Orien­tierung noch nicht gefunden hat. Das können Sie sich doch nicht zunutze machen.“

„Entschul­digung, ich habe mir nichts zunutze gemacht. Sie hatte einen Freund, als ich sie näher kennen­lernte, und die beiden haben mich besucht. Ich habe zwei erwachsene Kinder; da finde ich es ganz in Ordnung, wenn es zwischen den Genera­tionen freund­schaft­liche Bezie­hungen gibt.“

„Sie hat mir gesagt, sie fühle sich zu Ihnen hinge­zogen und den Alters­un­ter­schied nehme sie schon gar nicht mehr wahr. Sie will mit Ihnen zusammenleben.“

„Hat sie das gesagt?“

„Aber das hat doch gar keine Perspektive! Verzeihen Sie, aber Sie werden in abseh­barer Zeit ein alter Mann sein. Sie will Kinder haben – aber was haben die dann von Ihnen als Vater? Sie wäre doch mehr oder weniger allein erzie­hende Mutter, müsste womöglich noch berufs­tätig sein. Das ist doch grauenvoll. Sie würde ihre besten Jahre wegwerfen, nur um ein paar Jahre mit einem Mann zusammen zu sein, dessen Lebens­er­fahrung und Kennt­nis­reichtum sie faszi­niert. Das kann doch nicht gut gehen!“

Mutter Dohmen redete sich in Rage. Hirschberg sah ihre Ängste. Mit Argumenten kam man da nicht ran. Aber wie dann? Er senkte den Blick und schwieg. Sie fuhr fort:

„Noch ist nichts passiert. Schicken Sie sie nach Hause! Kündigen Sie ihr das Zimmer!“

„Ich soll sie vor die Tür setzen?“

„Ich bitte Sie darum.“

„Und Sie glauben, dann kehrt sie zu Ihnen zurück?“

„Irgendwo muss sie ja bleiben.“

„In Bonn weiter studieren, soll sie das von Essen aus?“

„Sie studiert doch gar nicht richtig.“

„Sie soll also zu Ihnen zurück und das Studium abbrechen. Darf ich Ihnen ein wenig von meinem Sohn erzählen? Ich habe zwei Kinder, eine Tochter, die gerade gehei­ratet hat, und einen Sohn, der schwul ist. Meine Frau und ich haben uns alle Mühe gegeben, zwei lebens­tüchtige Menschen in die Welt zu bringen. Wie Sie haben wir alles daran gesetzt, Unheil von unseren Kindern fern zu halten. Bei meinem Sohn hat das aber nur dazu geführt, dass er das Gegenteil von dem getan hat, was wir ihm jeweils nahe gelegt haben. Als er eine Frau heiraten wollte, von der wir nicht viel hielten, hat er sie doch gehei­ratet. Die Ehe ging in die Brüche. Da ist er nicht zu uns zurück­ge­kommen, sondern hat er sich in die Dritte Welt abgesetzt. Er war mein verlo­rener Sohn. Er wusste, dass ich das, was er tat, nicht billigen würde. Also hat er den Kontakt zu mir abgebrochen. Eltern können ihre Kinder nicht vor Unheil bewahren. Wir müssen sie loslassen und vielleicht zusehen, wie sie unter­gehen. Woher wissen wir denn im voraus, dass sie in ihr Unglück rennen, wenn sie nicht auf uns hören? Wir wissen es nicht.“

Er machte eine Pause. Dann fuhr er fort.

„Die Ehe meines Sohnes ist nicht an seiner Frau gescheitert, wie ich heute weiß, sie ist gescheitert, weil er schwul ist, was ich erst vor wenigen Wochen erfahren habe. Kinder wollen ab der Pubertät ihr eigenes Leben leben. Wenn Eltern das nicht einsehen, riskieren sie, dass die Kinder entweder nicht erwachsen werden oder sich vom Elternhaus verab­schieden. Wenn Katha zu Ihnen zurückkäme, wären Sie zwar Ihre Sorge los, aber Katha hätte sich entmündigt, statt sich endgültig abzunabeln. Wollen Sie das?“

„Das sehe ich nicht so. Sie hätte ihre Freiheit. Als sie mit Günter Franken zusammen war, habe ich mich völlig zurück­ge­halten. Sich von ihm zu trennen, war ganz allein ihre Entscheidung.“

„Und warum überlassen Sie ihr jetzt nicht die Entscheidung?“

„Weil sie blind ist.“

„Vor der Zukunft sind wir alle blind.“

„Aber das heißt doch nicht, dass man vor der Zukunft die Augen schließen soll. Die Lebens­er­fahrung sagt Ihnen genauso gut wie mir, dass man nicht blind entscheiden soll, mit wem man zusam­men­leben will, sondern mit klarem Kopf. Den hat sie zur Zeit nicht.“

„Das wissen Sie nicht, und ich weiß es auch nicht. Vielleicht ist sie sich der Risiken einer Verbindung mit mir durchaus bewusst. Sie haben sie ihr ja wohl drastisch genug vor Augen geführt. Klar, ich kann in ein paar Jahren ein Pflegefall sein. Aber im Straßen­verkehr kommt es täglich zu Pflege­fällen. Viele Männer in meinem Alter bekommen Prosta­ta­krebs. Aber wissen Sie, ob ich unter ihnen bin? Viele ältere Menschen erkranken an Alzheimer. Weiß ich, ob ich dabei bin?“

Er schwieg einen Augen­blick, sah sie an und sprach weiter.

„Wir kennen die Zukunft nicht. Und die Wahrschein­lichkeit aufgrund von Statis­tiken hat mit der Indivi­dua­lität des Einzel­schicksals nichts zu tun. Wissen wir denn, ob nicht Katha etwas zustößt, was mich zum Betrof­fenen machen würde? Ist doch alles möglich! Überlassen Sie ihr die Entscheidung!“

„Sie hat sich schon entschieden. Sie will bei Ihnen bleiben. Ich bin in der Hoffnung hierher gekommen, Sie hätten mehr Einsicht und ich könnte Sie dafür gewinnen, mich zu unter­stützen. Da habe ich mich wohl geirrt.“

„Sie irren sich in der Annahme, dass Sie Katha die Entscheidung abnehmen könnten. Sie dürfen sie ihr nicht abnehmen. Denn sie hat ein Recht auf selbst­be­stimmtes Leben. Das scheint sie wahrnehmen zu wollen.“

„Sie wollen mir also zumuten, dass ich zusehe, wie sie den Kopf verliert und sich an einen Mann hängt, dessen Tochter sie sein könnte.“

„Mit dem Herzen sieht man manchmal mehr als mit dem Kopf.“

„Sie klopfen Sprüche. Ich verstehe: Sie wollen mir nicht helfen.“

Jetzt erst lehnte sie sich zurück. Sie war erschöpft und gab auf. Der Kellner hatte längst serviert, der Kaffee war getrunken, Hirschberg hatte seinen Käsekuchen gegessen. Er machte ihr ein Angebot.

„Ich weiß, dass es für Sie hart ist. Was glauben Sie, wie viel Kraft es mich gekostet hat zu akzep­tieren, dass mein Sohn schwul ist. Sollte ich ihn deshalb verstoßen? Nein, ich war froh, ihn wieder­ge­funden zu haben. Ich werde Folgendes tun: Wenn ich nachher nach Hause komme, packe ich die für meine Arbeit notwen­digen Sachen und verschwinde eine Weile. Für Katha werde ich ein paar Zeilen hinter­lassen, in denen ich ihr mitteile, dass ich es für besser halte, wenn wir getrennte, unserem Alter gemäße Lebenswege gehen. Dann hat sie Zeit, ihre Entscheidung noch einmal zu überprüfen. Was halten Sie davon?“

„Tun Sie, was Sie für richtig halten!“ Sie erhob sich, winkte dem Kellner. Hirschberg: „Nein, nein, überlassen Sie das bitte mir!“ „Das möchte ich nicht.“ Er ließ sie ihren Kaffee bezahlen. Kühle Verab­schiedung. Er bestellte nochmal Kaffee und ein Stück gedeckten Apfelkuchen.

Zurück in Mehlem erledigte Hirschberg die Tagespost. Danach nahm er ein leeres Blatt Papier zur Hand, um Katha schriftlich mitzu­teilen, dass er für einige Tage verreisen werde.

Er schrieb: >Heute Nachmittag hatte ich in Köln ein Gespräch mit Deiner Mutter. Ich habe die Meinung vertreten, dass nicht sie zu entscheiden hat, sondern dass Du eine Entscheidung treffen musst. Eine Entscheidung, die weder von ihr noch von mir egois­tisch beein­flusst werden darf.

Damit Dir das möglich ist, ziehe ich mich für mehrere Tage zurück. Die Argumente Deiner Mutter sind vernünftig, trotz der Emotionen, mit denen Sie diese vertritt. Bedenke sie sorgfältig! Solltest Du sie nicht gelten lassen, mache Dir Punkt für Punkt klar, warum nicht. Andern­falls sollten wir uns nicht wieder­sehen. Verlass das Haus und wirf Deinen Hausschlüssel in den Briefkasten!

Ich bin dankbar dafür, dass wir uns begegnet sind. Aber das darf kein Grund sein, Dich in mein Leben hinein­zu­ziehen. Leb wohl! Johannes<

Er faltete das Blatt, schrieb auf die Vorder­seite das Datum und darunter „Liebe Katha …“. Den Brief legte er auf den Küchen­tisch. Dann holte er einige Lebens­mittel aus dem Kühlschrank, packte Arbeits­ma­terial und Lebens­mittel in seine Reise­tasche und verließ das Haus. Er fuhr durch die Nacht nach Mützenich in sein Wochenendhaus.

Seelenschmerz

… Katha: „Das ist unsinnige Vernunft“ … Hirschberg versinkt in 
Zweifeln … Hannelore mit Neuigkeiten für den Vater

Katha verließ das Tennis­zentrum in Mettmann erst nach dem Abend­training. Gegen Mitter­nacht kam sie in Mehlem an. Da sie noch Durst hatte, ging sie in die Küche und fand den Zettel. Sie las – und war wie von einer Keule getroffen. Mit dem Zettel in der Hand ging sie auf ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und brach in lautes Heulen aus. Sie schrie: „Was tun die mir an? Warum machen die das? Ich war so glücklich! Warum zerstören die das?“

Sie wimmerte, presste hervor: „Warum verstößt du mich? Warum haust du ab?“ Sie war untröstlich. Leise: „Was habe ich denn getan? Darf ich einen Vater als Mann nicht lieben?“ Nur langsam verebbte ihr Schluchzen. Sie drehte sich auf den Rücken, der Brief entglitt ihrer Hand und fiel zu Boden. Sie fuhr mit beiden Händen über ihr verweintes Gesicht und stieß hervor: „Das ist eine unsinnige Vernunft!“ Erneut kamen ihr die Tränen. Sie drückte ihr Gesicht ins Kopfkissen und überließ sich ihrem Seelenschmerz.

Hirschberg versuchte, sich vor dem Schla­fen­gehen von Katha abzulenken. Mit ein paar Akten setzte er sich in die Couchecke, wo neben einem der Sessel eine Leselampe stand. Hunger hatte er keinen. Im Gegenteil: der Apfel­kuchen, ein für ihn eigentlich ungefähr­liches Lebens­mittel, lag ihm im Magen, stieß ihm auf. Er musste sich einge­stehen: So abgeklärt, wie er den Einbruch von Mutter Dohmen in das junge Glück zwischen ihm und Katha zu handhaben versuchte, konnte er die Affäre doch nicht bewäl­tigen. Da war bei ihm mehr beteiligt als der Kopf. Da schoben sich Schmerzen hoch, gegen die er machtlos war. Das musste er durch­stehen. Oder war das, was er geschrieben hatte, falsch? Hätte er nicht so hart formu­lieren sollen? Überhaupt: War es richtig, einfach abzuhauen? Wäre es nicht besser gewesen, Katha in einem intel­lek­tu­ellen und seeli­schen Kraftakt bei ihrer Entscheidung zu helfen – als der väter­liche Freund, der er ihr sein wollte? Statt sie allein zu lassen? Sollte er anrufen? Ihm würde es gut tun.

Nein. Er hatte diesen Weg beschritten. Ihn jetzt zu verlassen oder gar umzukehren, würde die Situation völlig verfahren machen. Aber es war nicht auszu­schließen, dass sie anrief. Was sollte er dann sagen? Welchen Ton anschlagen? Er wünschte sich, sie würde anrufen. Und würde sie ihn bitten, sich in den Wagen zu setzen und zurück­zu­kommen – er würde es wahrscheinlich tun. Auf die Vermutung, er sei hier, darauf kam sie mit Sicherheit.

Vielleicht aber regte sich ihr Stolz – und sie würde nicht anrufen. Sie könnte sogar böse auf ihn sein und sich nunmehr nicht nur gegen ihre Mutter, sondern auch gegen ihn entscheiden. Diese Vorstellung gefiel ihm überhaupt nicht. Aber genau das konnte doch passieren! Sie könnte sich nach seiner Aktion heute dazu entscheiden, aus seinem Lebens­ho­rizont ein für allemal zu verschwinden. Das hatte er mit seinem Brief an sie und dem Verschwinden seiner­seits doch geradezu provo­ziert. Also doch anrufen? Relati­vieren? Reparieren?

Nein. Was er zu Mutter Dohmen gesagt hatte, war richtig. Katha musste sich entscheiden, und zwar ohne irgend­welche Hilfe­stellung. Wenn das auf eine doppelte Trennung hinauslief, eine Abnabelung sowohl von der Mutter, mit der sie sicher irgendwann wieder die Verbindung aufnehmen würde, als auch eine Abwendung von ihm, dem mehr als väter­lichen Freund, dann musste er das akzep­tieren. Wohin sie dann ihr Lebensweg führte, ob sie ohne Partner blieb oder doch den Mann ihres Lebens träfe oder an den falschen geriete – er musste sich wieder auf den für sein Alter gemäßen Lebens­ho­rizont konzentrieren.

Aber hatte er dem Mädchen gegenüber nicht Verant­wortung übernommen? Dadurch dass er sie nicht recht­zeitig, nämlich gleich am Anfang, zurück­ge­wiesen hatte? Der Ausflug in Mallorca war ja noch ok. Aber sie in Köln wieder­zu­treffen, war ein Fehler. Und sie bei sich einziehen zu lassen, war leicht­fertig und eine falsche Hilfe gewesen. Der Sündenfall aber war Rio.

Hirschberg kam nicht zur Ruhe. Ins Bett zu gehen, war sinnlos; er würde nur rotieren, sich den Kopf zermartern. Er zog sich warm an und ging raus. Es war ungemütlich. Westwind mit Regen. Schon nach kurzer Zeit war er durch­nässt, der Anorak war zwar dicht, aber das Wasser lief ihm vom Kopf runter in den Nacken und die Hosen­beine waren bis über die Knie einge­weicht. Er kehrte zurück. Und ihm war klar: Er könnte gehen, wohin er wollte, die Gedanken würden ihn nicht loslassen.

Die Erinne­rungen und Vorstel­lungen von Katha ergriffen ihn immer stärker, sie brachten ihn zum Wahnsinn. Sie waren nicht beherrschbar. Das würde keiner verstehen, der nicht Ähnliches schon erlebt hatte. Verliebtsein war eben doch eine Krankheit. Er ging ins Bett, wohl wissend, dass er kein Auge würde zu tun können. Er versuchte immer wieder, los zu lassen. Schließlich, draußen dämmerte es bereits, verfiel er in einen Zustand, in dem er nicht wusste, ob er phanta­sierte oder noch wach war.

Erst am späten Vormittag kam er wieder zu vollem Bewusstsein. Dass ihm das in seinem Leben noch passieren musste! „Hirschberg, du wirst nie gescheit!“, sagte er laut und verärgert zu sich. Wie gerädert stand er vor dem Spiegel im Bad. Er rasierte sich. Er schleppte sich durchs Haus, gab sich einen Ruck, aß ein wenig, stellte fest, dass er sich auf seine Arbeit nach wie vor nicht konzen­trieren konnte, legte sich auf die Couch und ließ die Gedanken sich austoben – dagegen ankämpfen war zwecklos, gab dem Feuer nur neuen Sauer­stoff. Er wurde müde und schlief schließlich ein.

Am Nachmittag wachte er wieder auf. Der Sturm hatte sich gelegt, der Regen aufgehört. Er machte sich zu einer kleinen Wanderung auf. Wieder wollten die Gedanken mit ihm verrückt spielen, aber diesmal gelang es ihm, jedes Mal ein „nichts Neues“ drüber zu stülpen. Nach vorne gewandt, sagte er sich: „Schicksal nimm deinen Lauf!“ Wieder im Haus nahm er seine Arbeits­un­ter­lagen erneut zur Hand. Mehr und mehr gelang es ihm, sich in seine Aufgabe zu vertiefen.

Arbeit war ein gutes Heilmittel. Bis tief in die Nacht saß er am Tisch und entwi­ckelte seine Vorstel­lungen. Als er endlich zu Bett ging, in der Hoffnung, er sei müde genug für einen erhol­samen Schlaf, merkte er, dass seine Gefühle für Katha die Gedanken an sie wieder hochkochten – er ließ ihnen freien Lauf, wälzte sich herum und weinte leise vor sich hin. Der Gedanke, sie zu verlieren, sie nicht wieder­zu­sehen, tat unendlich weh. Dann besann er sich auf seine ‚Erziehung zum Mann‘. Das ärgste Schimpfwort, das in seiner Jugend­gruppe einen treffen konnte, war ‚Memme‘. Schließlich betete er zur Mutter Gottes.

Hirschberg schlief ein, wachte schon bald wieder auf, dämmerte dahin. Das Telefon klingelte: Katha?! Er schoss aus dem Bett nach unten, machte Licht, nahm den Hörer ab. Es war Hannelore aus Hawaii. „Ja da steckst du! Ich habe schon ein paarmal in Mehlem versucht und dachte dann, du wärest wohl auf irgend­einer Geschäfts­reise. Wie geht es meinem lieben Vater? Habe ich dich aus dem Bett geholt? Wir gehen gleich zum Abendessen.“

„Hier ist bald wieder Morgen; ich bin noch im Bett, aber schon voller Gedanken. Ist es schön auf Hawaii?“

„Es ist hier wunder­schön. Wir werden unglaublich verwöhnt. Alles ist auf so Flitter­wöchler wie uns einge­stellt. Für meinen Geschmack etwas zu süß, viel Kitsch. Mit dem Homemobil durch die Rockies – hätte mir eher gefallen.“

„Dir kann man es aber auch nicht recht machen! Genieß es doch einfach! Die Ameri­kaner mögen es halt zu bestimmten Anlässen süß und kitschig.“

„Manchen gefällt das so gut, dass die das alles alle paar Jahre aufs Neue haben wollen. Hier im Hotel ist ein Paar, wo jeder Partner schon drei Ehen hinter sich hat.“

„Das hat unser Bundes­kanzler auch.“

„Bob und ich, wir können uns nicht vorstellen, es könne irgendwann einen Grund zur Scheidung geben.“

„Das mag das Paar mit den drei schon gehabten Ehen sich im Moment sicher auch nicht vorstellen. Aber wenn das Kribbeln zu Ende ist, …“

„Da denken wir noch gar nicht dran!“
„Und wie gefällt Bob der Hochzeitskitsch?“

„Dem macht das nichts aus. Aber er hat auch schon gesagt, wandern im Bryce Canyon wäre vielleicht nicht schlecht gewesen.“

„Und wie geht es nach dem Honeymoon weiter?“

„Wir kommen nach Deutschland. Ich werde so schnell wie möglich mein Examen machen und dann versuchen zu promo­vieren. Bob hat einen Job in Frankfurt in Aussicht, bei einer ameri­ka­ni­schen Bank.“

„Verstehe ich richtig: Du willst nicht in den Referen­dar­dienst gehen und das zweite Staats­examen machen?“

„So ist es. Wir gehen davon aus, dass wir bald unser erstes Kind haben werden. Dann will ich zuhause bleiben. Promo­vieren kann ich, ohne täglich außer Haus zu sein.“

„Bist du schwanger?“

„Das wird sich in ein paar Wochen herausstellen.“

„Ich freue mich, dass ihr nach Deutschland kommt.“

„Ich auch. – Geht es dir gut?“

„Ich bin etwas abgespannt. Deshalb habe ich mich auch hierher zurück­ge­zogen. Nächste Woche geht es wieder voll ran. Ich habe einen Vortrag bei der Jahres­ver­sammlung eines Unter­neh­mer­ver­bandes zu halten.“

„Welches Thema?“

„Das Unter­nehmen der Zukunft.“

„Dazu wird dir ja sicher einiges zu einfallen!“

„Unter­nehmen ‚Zukunft’, das ist ein spannendes Thema. Es macht mir Spaß, daran zu arbeiten.“

„So, jetzt lasse ich dich wieder ins Bett gehen. Ich wollte mich nur mal kurz melden, damit du weißt, dass ich dich trotz Honeymoon nicht vergessen habe. Ich hab dich sehr lieb.“

Tat das Hirschberg gut!

Entscheidung

… ungewaschen, unrasiert, ungekämmt, unausgeschlafen … ohne Umschweife 
mit ruhiger nachdrücklicher Stimme … die Gründe meiner Entscheidung

Es war noch früher Morgen, als Hirschberg durch das Zuschlagen einer Autotür geweckt wurde. Wer? Jemand klopfte an die Tür. Er zog den Bademantel an, ging nach unten, öffnete: Katha! Umarmung. Dann ging sie auf Distanz: „Guten Morgen, Herr Hirschberg.“ Er brachte kein Wort heraus. Sie war elegant wie eine Dame gekleidet, stark geschminkt, Parfüm. Er wurde sich seines wohl jämmer­lichen Anblicks bewusst: barfuß, alter Morgenrock über schlabb­rigem Schlaf­anzug, ungewa­schen, unrasiert, ungekämmt, unaus­ge­schlafen, kleine wässerige Augen. Sie, um die alle seine Gedanken kreisten, die verrückt mit ihm gespielt hatten, die ihn zerquetscht hatten, sie stand vor ihm – und konnte ein Grinsen bei Hirsch­bergs Anblick nicht verbergen. „Komm rein!“, sagte er, „ich bin gleich wieder da.“

Als er nach schneller Morgen­toi­lette und Ankleiden wieder nach unten kam, stand sie am Fenster zur Veranda und sah nach draußen. Dort hatte sie im Sommer zuvor mit Günter gestanden und dem Tanz der Glühwürmchen zugeschaut.

„Komm, setz dich!“, sagte er. Sie setzte sich in einen der Sessel der Sitzgar­nitur, lehnte sich nach hinten, zog den kurzen Rock ihres roten Kostüms nach vorne zu den Knien, ließ ihre Beine seitwärts eng neben­ein­ander stehen, legte die Arme ausge­streckt auf die Lehnen und sah Hirschberg forschend an.

Der betrachtete sie seiner­seits. Sie trug Schmuck. Am rechten Handgelenk ein Goldkettchen, links eine poppige Armbanduhr, um den Hals eine feingliedrige Goldkette mit großem Stein daran und dazu passende Ohrklipps, sorgfältig aufge­legtes Make up. Er sah eine neue Katha. Wie sollte er das deuten?

Sie, ohne Umschweife: „Du wolltest von mir eine wohl überlegte, eigen­ständige Entscheidung. Ich habe sie getroffen. Aber ich wollte sie dir weder durch ein wortloses ‚Aus-dem-Staub-machen’ mitteilen – Schlüssel in den Brief­kasten und auf Nimmer-Wieder­sehen – noch durch gedul­diges Warten auf deine Rückkehr. Also bin ich hier, um es dir zu sagen. Das halte ich nach dem, was wir mitein­ander gesprochen und erlebt haben, für die einzig adäquate Form.“

Das traf. Hirschberg saß mit zusam­men­ge­pressten Lippen und noch immer kleinen Augen ihr gegenüber auf der Couch. „Ich höre“, sagte er.

Sie fuhr mit ruhiger nachdrück­licher Stimme fort.[/vc_column_text]

„1. Ich möchte mein Leben nicht nach den Wahrschein­lich­keiten der Statistik ausrichten. Auch nicht nach dem, was in früheren Zeiten einmal allgemein üblich war und von Frauen erwartet wurde. Du weißt, dass ich weder kochen kann noch ein Faible für die übrigen Hausar­beiten habe. Vielleicht könnte ich das lernen.

2. Ob ich gerne Kinder haben würde, hängt nicht allein davon ab, dass das mein Wunsch ist, sondern auch von dem Mann, mit dem ich dauerhaft zusam­men­leben will. Wenn die Partner­schaft stimmt, will ich Kinder haben, nicht eines, sondern mehrere.

3. Ein Mann, der um seiner Frau und Kinder willen Karriere-Zwänge auf sich nehmen muss, die ihn zuhause zum selten gesehenen Gast machen, ist nicht das, was ich mir als Partner für Ehe und Familie vorstelle. Partner­schaft heißt für mich: Beide sind lebens­tüchtig und geben sich Orien­tierung, beide tragen zum Lebens­un­terhalt bei, beide teilen sich die Aufgaben des Alltags.

4. Ich halte es für töricht, einem Phantom von Mann nachzu­jagen und mich deshalb von einem Mann zu trennen, in den ich mich nicht nur verliebt habe, sondern der – soweit ich das mit dem Verstand greifen kann – auch den Charakter, die Lebens­er­fahrung und das geistige Vermögen hat, das mir für ein gemein­sames Leben verhei­ßungsvoll zu sein scheint.

5. Keiner kennt die Zukunft. Meine Mutter nicht, du nicht und ich nicht. Also was soll eine Entscheidung auf der Basis dessen, was alles passieren könnte. Klar ist, dass wir beide als Ehepaar keine Goldene Hochzeit mitein­ander feiern werden. Aber die Aussicht in Richtung Silber­hochzeit ist mir lieber als das Schei­dungs­risiko einer auf Dauer einge­gan­genen Beziehung mit lauter Unbekannten, die bei Männern meiner Generation unaus­weichlich sind.

Zusam­men­fassung: Ich möchte mit dir zusam­men­leben und Kinder groß ziehen. Jetzt ist es an dir zu sagen, ob du das deiner­seits auch willst. Damit du die Gründe meiner Entscheidung für immer präsent hast, habe ich sie auf die Rückseite deines Briefes geschrieben.“

Während der ganzen Zeit hatte sie das Blatt Papier, das ihr Hirschberg hinter­lassen hatte, in der Hand. Jetzt legte sie es auf den Tisch.

„Noch ein Nachtrag: Unabhängig davon, wie du dich entscheidest, habe ich beschlossen, mein Leben jetzt endlich in die eigenen Hände zu nehmen. Bisher bin ich dem ausge­wichen. Aber nun ist es soweit. Das ist das Gute an dem Streit mit meiner Mutter. Was ich beruflich machen werde, weiß ich nicht – aber ich habe erste Überle­gungen. Und noch etwas: Auch wenn ich mich nicht für dich entschieden hätte, wäre es auf jeden Fall mein Wunsch gewesen, dich als Freund zu behalten. Wenn du nun Zeit zum Nachdenken brauchst, nimm sie dir, so wie du sie mir gegeben hast.“

Hirschberg reagierte aus einer Mischung von Erstaunen, Trotz und Freude: „Brauche ich nicht.“ Erstaunt war er über die Souve­rä­nität, mit der Katha sprach. Einen Hauch von Trotz weckte ihr letzter Satz, den er als ein wenig von oben herab empfand. Voller Freude war er über ihre klare Entscheidung – für ihn. Da saß ihm eine selbst­be­wusste Frau gegenüber, die sich der Situation besser gewachsen zeigte als er.

Sie blickten sich erwar­tungsvoll an. Jeder wollte dem anderen die Initiative überlassen. Da folgte Hirschberg einer spontanen Eingebung: Er stand auf, holte sich einen Kuli, nahm das Blatt, entfaltete es und schrieb unter die fünf Punkte: Ja! Darunter Datum und Unter­schrift. Er sagte: „Das ist unser Ehevertrag.“ Sie: „Besser als Güter­trennung und was man sonst noch alles verein­baren kann.“ Sie standen auf, gingen aufein­ander zu, umarmten sich, langer Kuss.

Was sie heute noch vorhabe, wollte er wissen.

„Ich muss nach Mettmann zu einer Besprechung.“

„Kannst du die absagen?“

„Die Feier unseres Ehever­trages ist mir wichtiger.“

„Dann schlage ich dir eine Vennwan­derung vor. Das Wetter könnte nicht besser sein. Gestern noch Regen und Sturm, heute warm und sonnig. Anschließend kaufen wir in Simmerath ein und bereiten uns ein leckeres Mahl. Gemeinsam werden wir das schon hinbekommen.“

„Ich habe aber keine Wander­aus­rüstung dabei. Nur einen Trainingsanzug.“

„Du brauchst vor allem Gummi­stiefel. Die Forst­straßen und Wander­stege möchte ich, wo es geht, vermeiden.“

Sie suchten und fanden unter den ausran­gierten Gummi­stiefeln ein Paar, das ihr zusammen mit dicken Wollsocken von Hannelore passte. Sie ging zum Auto, um ihre Sport­tasche zu holen, er nach oben, um sich umzuziehen. Als er wieder nach unten kam und sie im Trainings­anzug sah, meinte er: „Nein, das geht nicht. Mit diesen Farben erschreckst du alle Tiere im Venn. Wir sehen mal nach, was du statt dessen anziehen könntest.“

Nach einer Suchaktion durch alle Schränke und Schub­laden stand sie schließlich in einer Hose von seiner verstor­benen Frau, einem Hemd von ihm und einem Anorak von Hannelore da. Er betrachtete sie: „Noch eine rote Nase und ein Schlapphut – und du könntest im Zirkus auftreten.“ „Mach dich nicht lustig über mich, sonst fahre ich doch noch nach Mettmann!“ „Für das Venn ist es ok.“ „Aber die Hose rutscht.“ „Ich glaube, eben habe ich in einer der Schub­laden noch alte Hosen­träger von mir gesehen.“ Er ging auf die Suche und kam schon bald mit den Hosen­trägern zurück. Sie zog sie an, war nunmehr selbst belustigt über ihre Aufma­chung und bat noch um einen leichten Pullover. Sie brachen auf.

Vollzug

… sie feiern ihr Liebesglück … eine verborgene und verbergende 
Märchenwelt … Ausklang des Tages in der „Alten Herrlichkeit“

Über Wirtschaftswege und Jäger­pfade wanderten sie ins Venn hinaus. Wenn sie neben­ein­ander gingen, hielten sie sich an den Händen. Auf den Pfaden ging er voran, blieb bisweilen stehen. Dann schloss sie auf, schlang ihre Arme von hinten um ihn und legte den Kopf auf seinen Rücken. Behutsam drehte er sich und umarmte sie. Kopf an Kopf standen sie in gegen­sei­tiger Vergewisserung.

Der Frühling war hier oben noch in den Anfängen. Das Pfeifengras vom Vorjahr war von Regen, Frost und Schnee ausgeb­lichen und platt gedrückt. Frisch dagegen das Grün der Sträucher, der Birken, Eschen und Erlen. An manchen Stellen trafen sie auf satt-grüne Mooskissen, die bis zur Hüfte empor­ge­wachsen waren, die Grasbuckel überwuchernd.

Die beiden wanderten über die Schneisen, mit denen nicht nur der Fichtenwald, sondern auch das Venn durch­zogen war. Rechts und links tiefe Entwäs­se­rungs­gräben. Diese waren so angelegt, dass das abflie­ßende Wasser sich immer wieder an kleinen Dämmen staute und daher keine Erosionen verur­sachen konnte. Hin und wieder zweigte ein Knüppeldamm ab, mit dem man einen früher sumpfigen Pfad durchs Moor überdeckt hatte. An schaurige Geschichten vergan­gener Zeiten erinnerten Kreuze, an Menschen, die sich verirrt hatten und ums Leben kamen, darunter waren auch Liebespaare.

Schon mehr als eine Stunde waren sie schweigend durch die herbe, aus dem Winter­schlaf erwachende Landschaft gewandert. Die Sonne stand hoch, es war Mittagszeit. Hirschberg hatte seinen Anorak geöffnet und die Ärmel hochge­zogen, er schwitzte. Katha hatte ihren Anorak um die Hüfte gebunden und den Pullover über die Schulter gelegt. Er pflegte auf solchen Wande­rungen, nach einiger Zeit sich einen Liege­platz zu suchen und die Natur zu genießen. Warum nicht auch jetzt?

Er hielt Ausschau. In einiger Entfernung lag auf einer kleinen Anhöhe ein Birken­wäldchen. Doch diese frisch-grüne Insel in der klaren Luft dieses strah­lenden Sonnen­tages lag in der absoluten Verbotszone, Zugang strengstens verboten. Zu Zeiten, als das Venn noch nicht vor dem Ansturm der Natur­freunde geschützt werden musste, waren solche Verbote unbekannt, war er kreuz und quer in der Landschaft herumgestreunt.

Spontan zog er Katha an einer günstigen Stelle über den Wasser­graben der Schneise, zeigte auf das Birken­wäldchen und sagte: „Da gehen wir hin! Schnell, damit uns keiner sieht.“ Es war mühsam, vorwärts zu kommen. Zwischen den Grasbu­ckeln sackte man immer wieder ein, geriet auch öfter in Wasser­löcher. Trat man auf die Buckel, kippten die zur Seite weg, so dass man sich schwer auf den Beinen halten konnte. Es brauchte eine Weile, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Das frische Grün des Gesträuchs und der Bäume umfing sie. Sie tauchten ein in eine verborgene und verber­gende Märchenwelt unter unbeflecktem blauem Himmel. Windstille.

Nach einem geeig­neten Liege­platz brauchten sie nicht lange zu suchen. Rotwild hatte hier Kuhlen hinter­lassen, die zum Hinein­legen geradezu einluden. Er: „Ich bin klatschnass geschwitzt.“ „Ich auch.“ Mit der Selbst­ver­ständ­lichkeit wie schon in Mallorcas „schönster Bucht“ zog sie sich aus und legte die nass geschwitzten Klamotten zum Trocknen aus. Diesmal zog er sich nicht zurück, sondern folgte ihrem Beispiel. Sie legten sich neben­ein­ander, schlossen die Augen und genossen die Luft auf ihrer Haut.

Nach einer Weile drehte sich Katha Hirschberg zu, hob den Kopf und betrachtete ihn: Ihr Mann! Wie schon an der Copacabana strich sie ihm mit der Finger­kuppe ganz leicht über die Stirn. Nach und nach bezog sie die Nase, die Schläfen, Wangen, Lippen, Hals und Kinn mit ein. Sein Gesicht war völlig entspannt, strahlte Freude aus. Sie beugte sich über ihn, küsste ihn. Dann legte sie sich wieder zurück.

Nach einer Weile spürte sie, wie er sich ihr zuwandte. Mit den Finger­rücken strei­chelte er ihre Wangen. Danach ließ er, ähnlich wie sie vorhin, seine Finger­kuppen zart über ihr Gesicht gleiten, mit einer Feinfüh­ligkeit, wie sie diese noch nicht erfahren hatte. Sie küsste seine Hand. Er beugte sich über sie und bedeckte ihr Gesicht mit lauter zarten Küssen. Schließlich lehnte er sich langsam zurück, während sie sich ihm wieder zuwandte. Mit ihren Fingern und Handflächen glitt sie über seinen Leib, erschloss sie sich ihn tastend, bei Mutter­malen und Warzen kurz verweilend.

Nach dieser Entde­ckungs­reise ihrer Hände bedeckte sie seinen Leib mit Küssen wie mit Perlen­ketten. Nach Jahren erwachte in ihm wieder der Mann. Das steigerte in ihr die zärtliche Zuneigung. Er spürte Kraft in sich aufsteigen. Sein Glied festigte sich. Ihre Lippen umfassten es, er fühlte ihre Zunge es umspielen, sanft fassten es ihre Zähne, seine Kraft prüfend. Danach zog sie sich wieder zurück.

Solcher­maßen geweckt, ließ er nunmehr sie die Zärtlichkeit seiner Finger und Hände erneut fühlen. Er richtete sich auf, zog sie – und sie verstand sofort – mit dem Rücken zu sich heran. Sie setzte sich zwischen seine Beine, so dass er sie von hinten umarmen konnte; er nahm ihre Brüste liebkosend in seine Hände, holte ihre Spitzen hervor und betastete sie so lange, bis sie fest waren.

Jeder Mensch, so kam es Hirschberg in den Sinn, jeder Mann genießt hier lutschend und saugend die ersten Momente seines Lebens nach der Geburt, fühlt sich angenommen und geborgen, stillt sein hungriges Verlangen. Welchen Fetischismus hatten die Porno­grafen aus diesem weiblichen Quell des Lebens gemacht! Sie drehte sich. Er wurde wieder zum Säugling: lecken, lutschen, säugen. Sie spürte, wie sie feucht wurde.

Langsam ließ sie sich auf den Rücken gleiten. Und gab zu erkennen, wo die Babys raus kommen. Sie fühlte seine Hand, wie sie über die Scham­haare glitt, wie die Finger­kuppen ganz zart die Ränder strei­chelten und mit der Klitoris spielten. Dann schob er sich behutsam auf sie. Er drang in sie ein. Sie küssten sich, ließen ihre Zungen mitein­ander tanzen. Sie umfassten sich, sie gerieten immer mehr in Erregung, verschmolzen inein­ander, wurden eins.

Ihre Natur bestimmte den Rhythmus, der Puls pochte, sie jauchzte und sie verweilten gemeinsam auf ihrem gleich­zei­tigen Höhepunkt. Welch eine Wonne! Liebe und Schöp­fungsakt. Ganz langsam ließen sie ihre Hochzeit ausklingen. Mit großer Zärtlichkeit gaben sie ihrer Liebe zuein­ander unentwegt Ausdruck.

Auf der Heimfahrt gaben sie ihre Idee auf, gemeinsam ein Essen zuzube­reiten. Danach war ihnen jetzt nicht zumute. Statt dessen wollten sie gegen Abend nach Monschau fahren und in der ‚Alten Herrlichkeit’ sich ein Festessen gönnen. „Schließlich haben wir ja gerade gehei­ratet!“, sagte Hirschberg. Katha sah verliebt zu ihm rüber und legte ihre Hand auf sein Bein.

Zurück in Mützenich gingen sie gemeinsam unter die Dusche. Mit Genuss ließen sie das Wasser über ihre Körper fließen. Sie wuschen sich gegen­seitig, waren dabei ausge­lassen wie verspielte Kinder. Das setzte sich fort mit dem gegen­sei­tigen Einschmieren der Körper­lotion nach der Wasser­orgie. Und dann waren beide müde. Bis zur Abfahrt nach Monschau war noch Zeit, also legten sie sich ins Bett. Zum ersten Mal gemeinsam unter einer Decke, wie Katha feststellte. „Und unter der werden wir ab jetzt gemeinsam stecken, bis der Tod uns scheidet“, ergänzte Hirschberg. Sie schmiegten sich anein­ander, fühlten die umfan­gende Wärme des anderen und schliefen ein.

Katha erwachte als erste, sie schüt­telte ihn leicht an der Schulter, um ihn zu wecken. Als er die Augen aufschlug: „Ich mache mich jetzt fertig. Übrigens: Du schnarchst Liebling!“ Er entschul­digte sich, war untröstlich und fragte dann schel­misch: „Scheidung oder getrennte Schlaf­zimmer?“ „Ich habe einen guten Schlaf.“

Er blieb noch liegen, schob die Arme unter den Kopf und konnte sein Glück nicht so recht fassen. Da hatte er sich unter großen Schmerzen von dieser Frau fast schon getrennt – und nun fühlte er sich aufs Innigste mit ihr verbunden, war sie seine Frau und er ihr „Liebling“. Unglaublich. Welche Wechsel­bäder der Gefühle! Leben wie es inten­siver nicht sein konnte.

Raus aus dem Bett! Er musste sich auch fertig machen. Sie würde ihr Kostüm wieder anziehen, dann sollte er Anzug und Krawatte tragen. Hier in seinem Ferienhaus hatte er aller­dings nur eine Clubkom­bi­nation. Er ließ sie die Krawatte auswählen. Er hatte drei im Schrank hängen. Katha entschied sich für eine Batik-Krawatte, die Hannelore ihm einmal zum Geburtstag geschenkt hatte, braun und gelb und rot mit teils grober teils recht feiner Zeichnung.

Sie war die Dame vom Morgen, aber – so kam es ihm vor – noch eleganter und so schön wie noch nie. Die Haare hatte sie hochge­steckt, was ihre Anmut hervorhob. Ihr Schmuck gab ihr Pracht. Ihr Gesicht spiegelte die Freude und das Glück des Tages wider. Die Augen strahlend, die Wangen rosig, der Mund liebevoll. Kein Lippen­stift, kaum Puder, wenig Lidschatten. Seine Frau! Hirschberg konnte es nicht glauben. Er war ein Glückspilz!

Hirschberg hatte im Restaurant angerufen und einen Tisch reser­vieren lassen, „mit Blick auf die Rur“. Sie bestellten „Forelle blau“, das war die Spezia­lität des Hauses. Dazu einen Weißwein von der Nahe. Als Vorspeise Parma­schinken mit Honig­melone. Dessert? Sie würden später noch einmal in die Karte sehen.

Sie sahen sich an, lächelten sich an, fassten sich bei den Händen. Sie prosteten sich zu, ließen die Gläser klingen und wären sich am liebsten über den Tisch weg in die Arme gefallen. Liebes­rausch. Sie redeten kaum. Die Blicke, die Mimik, die Gesten sagten alles. Dass sie die Aufmerk­samkeit der anderen Gäste auf sich zogen, nahmen sie kaum wahr. Alles um sie herum war ihnen gleichgültig.

Als Dessert wählten sie zuerst Früchte. Es folgte Vanille-Eis mit heißer Schoko­laden-Soße. Als Katha ihn für einige Minuten verließ, winkte er dem Kellner und bedeutete ihm „die Rechnung“. Er zahlte per Kredit­karte, gab ein großzü­giges Trinkgeld und sie verließen die „Alte Herrlichkeit“. Zuhause Zähne­putzen, und schon kuschelten sie wieder.

„Bist du geschützt?“, fragte er.

„Nein.“

„Ist das nicht leichtsinnig?“

„Vielleicht. Aber du beschützt mich doch jetzt!“

„Das tue ich. Wann war dein letzter Aidstest?“

„Du hast gemerkt, dass du mich nicht als Jungfrau bekommen hast. Aber ich war vorher nur mit Günter zusammen. Und der hat immer ein Kondom benutzt. Ich möchte so wenig wie möglich in meinen Körper eingreifen.“

„Du bist ein Engel.“

„Soll ich jetzt die Pille nehmen?“

„Nein.“

Sie merkte, wie sich sein Geschlecht regte und stimu­lierte ihn sanft und voller Hingabe. Er fühlte sich im Jungbrunnen.

Am nächsten Morgen erwachte sie wieder als erste. Sie blieb still liegen und dachte: Ja, die Entscheidung für diesen Mann war richtig. Sie war von ihm überzeugt. Von ihm wollte sie ihre Kinder bekommen. Er war nicht mehr ihr väter­licher Freund, er war nun ihr Partner, ihr phantas­ti­scher Liebhaber, ihr großer Sohn, ihr Kind, ihr Mann. Er war nicht Adonis, nicht der jugend­liche Held, sicherlich kein Teenager­schwarm, auch nicht der Traum jeder Schwie­ger­mutter, kein Märchen­prinz – aber ein Mann, mit dem man das Leben teilen und gemeinsame Zukunft machen konnte. Genau das wollte sie.

Leise stieg sie aus dem Bett, machte ihre Morgen­toi­lette, aß ein wenig, packte ihre Tasche und ging zurück zu ihm. Er war wach, hatte reali­siert, dass sie jetzt nach Mettmann fahren musste. Trotz aller Glück­se­ligkeit – aus der Welt aussteigen konnten sie nicht. Er empfing sie mit offenen Armen, drückte sie an sich. Sie setzte sich auf die Bettkante. Er: „Heute Abend in Mehlem?“ „Ja. Ich komme so früh wie möglich. Ich habe dich unendlich lieb!“

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