Kapitel 14

Was nicht ausein­ander klaffen darf:
Theorie und Praxis

Welches Vorurteil verbinden Sie mit dem Wort Theorie? Und mit dem Wort Praxis? Werfen Sie Ihre Vorur­teile über Bord! Sie brauchen beides: Theorie und Praxis. Das ist ähnlich wie beim Wandern. Mit einer guten Karte kommen Sie ans Ziel. Aber Sie müssen Karten lesen können und körperlich fit sein. Wer seine intel­lek­tu­ellen Fähig­keiten genauso wie seine prakti­schen Möglich­keiten ständig verbessert, inves­tiert richtig: in sich selbst.

Lassen Sie sich weder von intel­lek­tu­ellem Hochmut noch von ichsüch­tigem Pragma­tismus bestimmen!

Jeder Jugend­liche hat bei uns die Chance zu studieren. Manche machen vor ihrem Studium eine Lehre. Das ist oft eine sehr sinnvolle Kombi­nation. Denn Theorie und Praxis gehören zusammen. Es ist falsch, Gegen­sätze daraus zu machen. Das eine gewinnt jeweils Sinn und Zweck aus dem anderen. Die arbeits­teilig organi­sierte Berufswelt hat es mit sich gebracht, dass vielfach ein “entweder — oder” aus Theorie und Praxis geworden ist: Kopfar­beiter – Handar­beiter, die in den Büros – die in den Betrieben, Welt des Geistes – Welt der Arbeit, Mitar­beiter mit weißem Hemd und Krawatte – Mitar­beiter im Blaumann. Das größere Prestige haben gemeinhin die White-Collar-Leute.

Für die Lebens­ge­staltung ist es nützlich, wenn Theorie und Praxis nicht ausein­an­der­laufen. Einsei­tig­keiten wie zwei linke Hände oder das Unver­mögen, eine Konstruk­ti­ons­zeichnung zu verstehen, sind Handicaps. Hat man in seiner Erziehung eine Wertigkeit mitbe­kommen, die einen die theore­tische Beschäf­tigung mit den Dingen höher einschätzen lässt als die mit den prakti­schen, sollte man das in seiner Einsei­tigkeit korri­gieren. Denn sonst geraten Denken und Handeln immer wieder oder sogar auf Dauer ausein­ander, ist man scharf­sinnig in der Analyse, aber unfähig, wenn es um Taten geht.

Die Unfähigkeit, Vorstel­lungen in die Tat umzusetzen, verführt dazu, sich Illusionen zu machen. Man wird wirklich­keits­fremd. Damit das Selbst­be­wusstsein nicht angenagt wird, werden dann Abwehr­hal­tungen etabliert: Man ist halt für das Praktische unbegabt, hat eben zwei linke Hände, ist ohnehin für solche niederen Arbeiten nicht geschaffen. Auf der anderen Seite gibt es die protzige Selbst­ge­wissheit derer, die sich als von keiner Theorie angegraute Praktiker verstehen. Sie sind gewohnt, sich durch­zu­setzen, werden nicht von Skrupeln geplagt. Falls etwas schiefgeht, probiert man eben nochmal. Egozentrik und Vitalität – bis ein Crash den Bulldozer stoppt.

Erwerben Sie Know-how und entwi­ckeln Sie praktische Fähigkeiten!

Wer bei sich Defizite auf der theore­ti­schen oder auf der prakti­schen Seite seines Agierens feststellt, sollte sich nicht damit abfinden, sondern danach trachten, das Manko auszu­gleichen. Alles andere führt zu einer einsei­tigen Sicht­weise des Lebens­um­felds, zu Missver­ständ­nissen und unange­mes­senen Urteilen. Theorie entwi­ckeln, heißt: eigene und fremde Einsichten und Erfah­rungen so aufar­beiten, dass man daraus Handlungs­kon­zepte zu entwi­ckeln vermag. Gegenüber der Vorge­hens­weise nach dem Motto “probieren geht über studieren” hat die intel­lek­tuelle Durch­dringung von Wirklichkeit den Vorteil erheb­licher Zeitersparnis.

Das Probieren wird dabei nicht verworfen, sondern als Experiment, Versuchs­reihe, Testpro­gramm einbe­zogen. Das Denkver­mögen dient dazu, die Komple­xität des Lebens trotz der Einma­ligkeit jeden Augen­blicks und der Unnach­ahm­lichkeit jeder Situation auf Regeln und Muster hin zu unter­suchen, um daraus Handlungs­an­sätze zu gewinnen.

Die theore­tische Beschäf­tigung mit dem Leben bringt Know-how. Nur die theore­tische Ausein­an­der­setzung mit der Wirklichkeit schafft die Voraus­set­zungen für zielge­rich­tetes Handeln:

  • Erkennt­nis­ho­ri­zonte und Handlungs­spiel­räume ausweiten,
  • Wissen und Erfahrung zur Entwicklung von Konzepten nutzen,
  • Planungen erstellen und in die Tat umsetzen.

Praktische Fähig­keiten entwi­ckeln, heißt: In der Wirklichkeit bleiben. Schreiner müssen ein Gefühl für Holz, Schlosser für Metall haben. Auch wenn später der Computer ein wesent­liches Arbeits­gerät ist und Automaten die Werkstücke bearbeiten, steht am Anfang der handwerk­liche Umgang mit dem Material: hobeln, sägen, bohren, feilen. Denn sonst fehlt die Dimension des Sinnen­haften, ohne die eben jede Theorie grau wird.

Betreiben Sie “Ausgleichs­sport”!

Je nachdem, auf welchem Berufsfeld Sie tätig sind, müssen Sie für “Ausgleichs­sport” sorgen. Sind Sie vorwiegend mit theore­ti­schen Aufgaben beschäftigt, sollten Sie mit prakti­scher Arbeit gegen­steuern. Dazu bieten sich im Zeitalter des Do-it-yourself vielfältige Möglich­keiten. Sind Sie haupt­sächlich handwerklich tätig, sollten Sie Freude auch an intel­lek­tu­ellen Tätig­keiten finden.

Der Theore­tiker muss sich fragen:

  • Was bietet sich an, um mein Wissen in Taten umsetzen zu können?
  • Wie schaffe ich es, nach der Analyse auch eine Lösung herbeizuführen?

Der Tatmensch muss sich fragen:

  • Was sollte ich jeweils bedenken, bevor ich loslege?
  • Wie kann ich mir das Wissen und die Erfah­rungen anderer zunutze machen?

Um Denken und Handeln in Ihrem Leben möglichst nahe anein­ander zu binden, sollten Sie Vorge­hens­weisen entwi­ckeln, die ihnen helfen:

  • Infor­ma­tionen zu sammeln und aufzubereiten,
  • aus Ideen und Vorstel­lungen Konzepte zu entwickeln,
  • Projekt­pläne zu erstellen und
  • nach getaner Arbeit die gemachten Erfah­rungen festzu­halten und Lehren daraus zu ziehen.

Mit nützlichen Übungs­pro­grammen lässt sich Wirklich­keitssinn entwi­ckeln. Beispiele: “Möbel schreinern”, “Kleider nähen”, “Spielzeug basteln”, “Nutzgarten anlegen” und vieles andere mehr.

Führen Sie solche Projekte nicht nur für sich allein, sondern auch in Gruppen durch. Das bringt allsei­tigen Gewinn, weil man dann Einsichten und Erfah­rungen unter­ein­ander austau­schen kann. Beziehen Eltern ihre Kinder in solche Projekte mit ein, ist das ein großar­tiger Lernprozess für alle, und die Kinder erfahren geradezu spielend, wie das kombi­nierte theore­tisch-praktische Vorgehen wirklich­keits­ge­rechte Lebens­be­wäl­tigung mit sich bringt. Sie finden vom Drauflos ihrer kindlichen Sponta­neität zum planvollen und damit zielge­rich­teten Handeln, sie lernen den Kopf zu gebrauchen.

Spüren Sie den Urgründen Ihres Erlebens nach!

Leben als Erkenntnis- und Umset­zungs­prozess verstehen, heißt in letzter Konse­quenz: leben, was man denkt, und überdenken, was man lebt. Gedanken, Worte und Taten – das sind unsere Lebens­äu­ße­rungen. Persön­lich­keits­ent­wicklung zielt darauf ab, im Laufe der Zeit zu möglichst viel Überein­stimmung im Denken, Reden und Handeln zu gelangen.

Die Reihen­folge ist wichtig: zuerst denken und danach erst reden und handeln. Richten Sie Ihre Taten am eigenen Denken aus und nicht an unbedachten Gewohn­heiten oder an den Einflüs­te­rungen anderer oder an Milieuzwängen. Außerdem sollte man alles, was man hört und sieht und liest, auf Vorur­teile hin überprüfen. Andern­falls wird man schnell das Opfer derer, die uns in ihrem Sinne manipu­lieren wollen – als Käufer, Wähler oder Arbeitnehmer.

Wer mit wachen Sinnen und einer Grund­ein­stellung des Fragens lebt, findet so gut wie täglich zu neuen Einsichten. Entde­ckungs­rei­sende oder Archäo­logen arbeiten metho­disch, um ihren Erkennt­nis­stand zu vergrößern. Sie verzeichnen und dokumen­tieren zunächst, was ist. Dabei schenken sie auch unschein­baren Gegeben­heiten Aufmerk­samkeit. Denn sie wissen, dass die Dinge oder Vorkomm­nisse in der Regel nur mit einem Zipfel oder Vorboten in Erscheinung treten. Das Ganze in seinen vielfäl­tigen Zusam­men­hängen liegt so gut wie nie zu Tage. Es erschließt sich erst in einem oft langwie­rigen Prozess.

Die Methoden der Forscher lassen sich vortrefflich nutzen, um sich in seinem Lebens­umfeld besser zurecht zu finden. Die Ereig­nisse eines Tages bergen eine Fülle von Hinweisen auf verborgene Phänomene, erhel­lende Erklä­rungen und berei­chernde Sinnge­bungen. Greifen Sie zwei oder drei Vorgänge auf, beschreiben Sie sie so ausführlich wie möglich, vergleichen Sie mit ähnlichen Vorkomm­nissen, fragen Sie nach den Ursachen und Folgen, gehen Sie jedem Gedanken nach, der Ihnen in den Sinn kommt.

Am Anfang wird Ihnen vieles selbst­ver­ständlich vorkommen und die Frage auftauchen: “Was soll das? Weiß ich doch alles!” Lassen Sie sich dadurch nicht von Ihrer Absicht abbringen, in unbekanntes Gelände vorzu­dringen. Jede Anreise führt durch bereits vertrautes Gelände. Aber dann geht es los: “Das ist mir bisher ja noch gar nicht aufge­fallen! Vielleicht ist das ganz anders zu verstehen! Dem werde ich mal auf den Grund gehen!”

Ihre Gedanken, Worte und Taten bestimmen Ihre Lebensqualität

Nie werden wir unsere Gedanken über bestimmte Konzen­tra­ti­ons­phasen hinaus ständig in den Griff bekommen. Aber je mehr Denkarbeit wir leisten, um so eher machen wir die Erfahrung, dass wir unserer Gedan­kenwelt keineswegs unein­ge­schränkt ausge­liefert sind, sondern gestaltend mit ihr umgehen können. Die Software für die Einheit der Person in Gedanken, Worten und Taten wird im Kopf geschrieben. Sie zu entwi­ckeln, gibt es ein vortreff­liches Instrument: das Erkennt­nis­ta­gebuch – als Ergänzung zum Ereignistagebuch.

Für die Erfor­schung des Lebens­um­felds kommen nicht nur Ereig­nisse in Frage, an denen Sie unmit­telbar selbst beteiligt waren, sondern auch solche, die Ihnen über Personen oder Medien zugetragen worden sind. Was haben Sie Inter­es­santes in der Zeitung, einer Zeitschrift oder einem Buch gelesen, im Radio gehört, auf dem Bildschirm gesehen? Die Ansatz­punkte für Ihre Erkennt­nis­pro­zesse finden Sie auf Schritt und Tritt.

Im Laufe der Zeit kommen immer mehr Erkennt­nisse zusammen, die das Leben erhellen. Das beglückt. Anrei­chern lassen sich die persön­lichen Einsichten durch die Lektüre der Äußerungen anderer. Die Weltli­te­ratur ist voll von großar­tigen Gedanken und Lebens­bei­spielen, in denen Weisheit aufscheint. Ziehen Sie aus all dem Ihren ganz persön­lichen Gewinn: Führen Sie ein Erkenntnistagebuch!

Das alles steigert nicht zuletzt auch Ihre beruf­lichen Möglich­keiten. Denn mehr und mehr Unter­nehmen lösen die Arbeits­teilung zwischen überwiegend theore­ti­scher und überwiegend prakti­scher Tätigkeit auf. Die Zeit der Wasser­köpfe ist vorbei. Anderer­seits hat die Ausbreitung von Theorie vor den Werks­hallen nicht Halt gemacht. Auch hier brauchen die Mitar­beiter heute Abstraktionsfähigkeiten.

Deshalb haben un- oder angelernte Arbeits­kräfte immer weniger Arbeits­platz­chancen. Die unter­neh­me­rische Kombi­nation von Kopf- und Handarbeit im gruppen­dy­na­mi­schen Zusam­men­wirken der Mitar­beiter sowie die strikte Ausrichtung des Handelns an der Wirklichkeit gibt im Wettbewerb auf den Märkten den entschei­denden Vorsprung.

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